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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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wilden Leuchten des Gewitters aufblitzte.
    Karlas Mutter lag im Bett. Für einen Augenblick glaubte Karla, ihr Vater hätte sie umgebracht. Doch dann sah sie, dass sich ihr Brustkorb hob und senkte. An ihrer Stirn klaffte eine große Wunde, Blut sickerte in ihre halb geschlossenen Augen, rann über ihre Lippen, tropfte auf den schneeweißen Bettbezug.
    Unverständliches Gemurmel drang aus Vaters Mund. Arik saß aufrecht in seinem Kinderbett, der Strampelanzug nass vor Erbrochenem und Tränen. Die Stimme des Monsters klang dunkel und böse, Wortfetzen, die das Verderben in sich trugen, erfüllten den Raum. Seine ausgestreckte Hand schwang hin und her, ein helles Zischen des Metalls in der Luft.
    »Nein!« Als Karla schrie, verstummte Arik, in seinen Augen ein tröstliches Wiedererkennen.
    Karlas Hand berührte den schweißüberströmten Rücken ihres Vaters, seine Haut war eiskalt, viel zu kalt für einen Lebenden. Er drehte sein Gesicht von Arik weg und sah sie an. Seine Augen waren dunkel wie eine sternlose Nacht. Und böse. Seine Lippen zitterten, Speichelfäden klebten daran.
    Karla schreckte zurück.
Er erkennt mich nicht
. Ihr Herz schlug rasend, ihre Knie waren weich. Arik sah sie an, wimmernd, nach Luft schnappend. Sein Mund formte stumm ihren Namen. Karla suchte in ihren Erinnerungen nach dem Klang seiner Stimme, sie wollte hingehen, ihn hochheben und festhalten. Ihn wegbringen, weg von hier, weg von dem Ungeheuer und den Sterbenden.
    Draußen ein Zwielicht, eines, das einen erwartet, wenn man inmitten eines Traumes erwacht, mit halb geöffneten Augen aus dem Fenster blickend, die Nachtdunkelheit mit der Traumhelligkeit vermengend.
    Der Regen hatte aufgehört und der Wind schwieg. Karla hörte das hoffnungsvolle Singen der Sperlinge, die glaubten, alles sei überstanden. Nur noch leises Plätschern der Rinnsale, versiegende Wasserläufe. Einen Moment lang glaubte sie, Grillen zu hören, weit entfernt, ganz leise, den Sommer lockend.
    Ihr Vater hob den Kopf und lauschte.
    Karla blinzelte.
    Ihr Vater grollte.
    Der Schraubenschlüssel zischte herunter.
    Dann waren sie hier.
     
    Karla spürte den Schmerz zwischen ihren Schläfen, sah das Gesicht des Ungeheuers. Aber nicht nur seines. Sie sah all ihre Gesichter, spürte die dunkle Seite der kleinen Stadt, unten, im Kinderland, wo es immer Herbst war, niemals Sommer ...
    Erwachsene mit Bündeln über die Schulter geworfen, versteckt im Mondschatten. Tiefe Gruben, modrige Erde, frisches Gras darauf. Sie spürte, dass Unrecht niemals vergehen würde, egal, wie viele alte Frauen in den Kirchenbänken kauerten und um Vergebung beteten, die Hände gefaltet, die Köpfe gesenkt. Vergessen waren sie, die Mondkinder.
    Karla sah die Soldaten der Wehrmacht von Dachau kommen, Kinderseelen bei sich, ein Lied auf den Lippen, unbekümmerte Gesichter. Männer und Frauen auf dem Marktplatz, die von Schuld und Erlösung flüsterten, den Herrn Jesus Christus anflehten, sich bekreuzigten.
    Wie Unkraut sind die Kinder, wie Unkraut, das man ausreißen muss
, sagte jemand und lachte.
    Knochen auf Knochen. Haut auf Haut. Augen starr oder geschlossen, im Traum verweilend.
    Kinderland hatten sie es erst später genannt. Judenland zuvor.
     
    Ganz, ganz tief in der Erde,
    verschluckt zum Mittelpunkt der Welt,
    Wundmale an den Hälsen,
    schauen sie zu ihrem eigenen Himmel hinauf.
    Dort unten.
    Unser ist das Himmelreich.
     
    Karla sah all das. Und ein Schmerz durchströmte sie, der den Schmerz des Hiebes verblassen ließ. Das Allerheiligenmädchen und die Kinder unter der Erde waren vereint, frisches Blut, das über ihr Gesicht lief, auf den Teppich tropfte, die Verbindung besiegelte.
    Der Schraubenschlüssel fiel zu Boden. Karla hörte ihren Vater etwas sagen, Unverständliches, weit entfernt. Sie holte tief Luft, geradeso, als wollte sie alles Böse verschlucken, von Arik wegsaugen. Dann blitzten grelle Lichter hinter ihren Augen auf, ganz tief, dort, wo ihr Geist, ihre Seele wohnten. Ein Gewitter in Karlas Kopf.
    Als Karla fiel, wurde entschieden, dass sie sehr lange schlafen sollte.
    Dreizehn Jahre würden jedem wie eine lange Zeit erscheinen – für ein Kind aber war es ein ganzes Leben.

Novembernebel
Herbst 1986
     
    Waren in den vergangenen Jahren zu Allerheiligen Leute an den Gräbern gestanden, der Priester leise murmelnd und Weihwasser verspritzend, blieb der Friedhof in diesem Jahr ohne Besucher. Noch immer stand das Wasser hoch, der Grüne See hatte sich noch nicht
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