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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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Menschen, die das Leben mühselig bemalten und dies irgendwann aufgegeben hatten.
    Christoph hatte sich vorgestellt, mit Sara zusammenzuwohnen, hier, im roten Haus. Sie wären erwachsen und sie wären gütig und gut. Sie wären laut, ohne Scheu vor den anderen und voreinander. Jeder Atemzug wäre es wert, für immer an jene dunkle Nacht denken zu müssen. Küssen würde er sie, jede Sekunde, alle Tage. Das ganze Leben lang.
    Christoph blickte hinauf. Saß vor dem Fenster, an dem der Regen herunterlief, weinte. Der Kaffee vor ihm war längst kalt geworden, die Zigarette erloschen, ohne geraucht worden zu sein. Solange er nicht hinauf zum Murr-Haus ging, konnte er sich einreden, Sara wäre noch am Leben. Eines Tages würde sie vor seiner Tür stehen, die blonden Haare offen und die Augen hell. Sie würden auf der Veranda sitzen, bis alles vergessen war, und sie wären glücklich für alle Zeit.
    Wenngleich Christoph wusste, dass dies nicht geschehen würde, war der Gedanke daran so gut, dass er ihn nicht verlieren wollte.
    Natürlich hatte er von dem drohenden Unheil geträumt, hatte es nicht nur geahnt, sondern gewusst. Zwischen leeren Kaffeedosen und getrockneten Ahornblättern, zwischen Skizzen und gesammelten Schneckenhäusern, stand ihre Geschichte. Während die Nächte das Haus verschluckten, hatte Christoph sich vorgestellt, was wohl aus ihnen geworden wäre. Die alte Schreibmaschine unangetastet, hatte er jedes einzelne Wort mit der Hand geschrieben, weil es sich so richtiger anfühlte. Hatte nach ihren Herzschlägen gesucht, dort draußen, weit weg, zwischen den Wäldern, zwischen dem Kinderland und der Finsternis des Himmels. Manches Mal war er fündig geworden, hatte sie spüren können, lose Papierfetzen, die in seinem Zimmer herumflogen wie Motten, verrutschte Buchstaben, vergessene Gedanken.
Tapfer trage fort mein Herz.
    Christoph fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn sie damals nicht dort hinauf gegangen wären, um nach der Hexenkarte zu suchen. Vielleicht, und das dachte er sich immer öfter, wären sie auch dann gestorben. Erschlagen und vergraben und vergessen. Und er mit ihnen.
     
    Die Welt dort draußen schien eine andere zu werden.
    Die kleine Stadt und ihre Gewitter, der Herbst und seine Schatten. Geflüsterte Namen, die mit dem Wind von Ost nach West zogen, sich verfingen in den Baumwipfeln, umherwirbelten und verschwanden. An jeder Ecke, in jedem Winkel eine Stimme, Kinderlieder und Kinderreime, Abzählverse und Geburtstagswünsche. Hunde, die nach den Gespenstern schnappten und dann mit eingezogenem Schwanz Unterschlupf suchten. Eingeschlagene Scheiben. Flache Kieselsteine, die über das Wasser auf den Straßen hüpften, geworfen von einer unsichtbaren Hand. Der Grüne See, der längst kein See mehr war, sondern ein dunkles Meer, das alle Felder und Äcker in sich trug.
    Es war besser gewesen, das Haus nicht zu verlassen, an jenem Tag, Ende Oktober, mitten in der Nacht. Aber es war auch besser gewesen, nicht zu schlafen, solange es unwirklich blieb. So saß Christoph in seinem Lieblingsstuhl vor dem Fenster. Die alte Öllampe brannte und warf fahrige Schatten an die Wand. Das Holz im Ofen glühte.
    Blitzeinschläge in der Nähe, immer wieder.
    Christoph dachte an seine Eltern. Vor einigen Monaten hatte er seine Mutter auf dem Marktplatz gesehen. Sie war wortlos an ihm vorbeigegangen, als wäre er ein Fremder. Vielleicht würden sie gerade jetzt in seinem Zimmer unter dem Dachboden Schutz suchen, würden sich fragen, wem das Bett gehört haben mochte.
    Er dachte auch an seine Schwester, das Regenmädchen. An das Geräusch ihres Atems, wenn sie schlief und die unverständlichen Worte, wenn sie träumte. Das Geräusch ihrer Schritte, wenn sie nach unten lief, die Treppe hinab, laut lachend, unsichtbare Schmetterlinge fangend.
    In einer der Schachteln, die er in dem roten Haus gefunden hatte, war ihr Leben aufbewahrt. Ein Bilderbuch über eine Katze und eine Maus, an den Ecken abgestoßen, die ersten Buchstaben mit Holzstiften zwischen die Bilder gemalt. Ein Zahn, eine Haarspange aus Plastik, eine hellbraune Haarlocke. Eine Fotografie.
    Sophie. Regenmädchen. War verschwunden.
    Eine Brille lag darin. Er konnte sich nicht erinnern, dass Sophie sie jemals getragen hatte. Zusammengefaltetes Papier mit bunten Zeichnungen unbeschwerter Gedanken.
    Sie wäre heute eine erwachsene Frau, vielleicht hätte sie selbst schon Kinder. Er würde sie und ihre Familie, die auch seine sein würde, an den
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