Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
Vom Netzwerk:
wo er die ganzen Kerzen gefunden hat. Weißt du, was er geantwortet hat?«
    Karla schwieg.
    »Er sammle sie schon seit zwei Jahren und verstecke sie unter seinem Bett. Als hätte er es gewusst ... du weißt schon ...« Tom lachte unbeholfen.
    Karla sah sich um. Leonard saß im hintersten Eck der Fabrikhalle und stapelte kleine Schachteln aufeinander, spielte mit ihnen wie mit Bauklötzen.
    »Was hat er da?«
    »Streichholzschachteln. Dutzende. Frag mich nicht, woher er die hat, aber er hat sie. Gott sei Dank.«
    In dem Moment sah Leonard auf. Er lächelte und winkte ihnen zu. Karla hob ihre Hand und winkte zurück.
     
    Es war schon fast ein Uhr früh. Karla war müde und sie fror. Das Gewitter mittlerweile unwirklich, immer wieder Blitzeinschläge in Häuserdächer und Schornsteine. Katzengeschrei und Kinderlieder, kaum hörbar, in der Ferne. Die meisten Kinder schliefen aneinander gekauert, sich wärmend. Charlie las immer noch vor, eine Gutenachtgeschichte, die keine war und bis zum Morgengrauen dauern mochte.
    »Wir müssen gehen«, sagte Tom und legte eine Hand auf Karlas Schulter.
    »Gehen? Wohin?« Karla bekam Angst. Toms Stimme war nicht mehr dieselbe.
    »Hast du nicht auch davon geträumt?«
    »Von was?«
    »Von dem Haus, dort oben auf dem Grabhügel. Von den Kindern, die immer noch dort oben sind.« Toms Blick richtete sich auf das große Fenster und suchte die dahinter liegende Finsternis nach den Umrissen des Murr-Hauses ab. Seine Jacke knisterte, als er die Hände in die Taschen schob.
    Natürlich hatte Karla davon geträumt, wenngleich sie es beinahe vergessen hatte, oder vergessen wollte. Von den Bewegungen im Dunkeln, von den Schattengestalten im Nichts. Von Werwölfen und Vampiren, von den Toten, die auferstanden waren. Von all den Gestalten, von denen es hieß, es würde sie nicht geben, nicht
wirklich
geben.
    »Wir müssen es zu Ende bringen. Heute.«
    »Was meinst du?«
    Tom gab keine Antwort.
    »Was wird geschehen?«, fragte Karla, ihre Stimme ein Wispern.
    »Wer weiß das schon? Vielleicht werden wir selbst so wie sie.«
    Karla wusste, wen Tom meinte. Mütter, Väter, ihre Eltern, seine.
    »Wir könnten doch weggehen.«
    Tom schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht, dass das was nützen würde.«
    Du hast recht, dachte Karla, sprach es aber nicht aus.
    Tom nahm Karlas Hand und führte sie durch die Halle zum großen Eingangstor. Er öffnete die schwere Eisentür, und kalte Luft drang herein. Regenwasser umflutete ihre Schuhe, umkleidete die Füße mit einem Schauer. Es roch nach glimmendem Holz, vermutlich hatte ein Blitzeinschlag eine Scheune oder ein altes Dach in Brand gesteckt. Sperlinge drängten in die Halle, setzten sich auf die Dachträger, zwischen Rost und Spinnweben.
    »Wer ... Du und ich?«, fragte Karla, die Antwort ahnend.
    »Du und ich. Leonard und Magdalena.«
    Die beiden hatten sie die ganze Zeit beobachtet. Während sie zu Tom und Karla hinübergingen, steckte sich Leonard Kerzen in die Taschen, Magdalena, das Mädchen mit den lockigen, feuerroten Haaren, nahm seine Hand. Tränen ließen ihre Wangen glänzen.
    »Warum wir?«, hauchte Karla.
    Tom sah sie an, der Ausdruck in seinen Augen klar, bestimmt: »Wir sind die Einzigen, die von dir geträumt haben. Letzte Nacht.«
    »Von mir?«
    »Ja, von dir. Dem Allerheiligenmädchen.«
    Leonard und Magdalena nickten.
    Alles war gesagt, nun mussten sie es tun.
    Der Regen wurde stärker, der Wind eine Wand aus Eis.
    Dann gingen sie los.
     
    Die Kirchturmuhr spielte verrückt. Die großen Messingzeiger schwangen hin und her wie das Glücksradpendel auf dem Jahrmarkt. Immer wieder ein leises Brummen der Glocken, die Wetterfahne auf dem Kirchturm verbogen.
    Sie durchquerten die schmalen Seitenstraßen, die zu Bachläufen geworden waren. Unter ihren Schuhen knirschte das Glas zerbrochener Fenster, auf und zu schlagende Türen klapperten im Wind. Treibgut auf dem Wasser, ein Schuh, eine Hose, Schallplatten. Tote Ratten, die es nicht mehr aus den Kellern geschafft hatten oder bereits tot waren, als die Flut kam. Ein Rattenschwanz berührte Karlas Unterschenkel, sie schrie auf.
    »Was sollen wir da oben machen?« Karla blickte der Ratte nach, die in einem Kellerschacht verschwand, voller Ekel und Furcht vor dem, was noch kommen würde.
    »Vielleicht können wir sie runter bringen«, sagte Tom.
    »Und wenn nicht?«
    »Habt ihr euch schon mal vorgestellt, wie die aussehen? Sie sind seit dreizehn Jahren tot. Also ich hab mir das schon mal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher