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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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Grabhügel.
     
    Zugleich verloren wir unsere Arbeit, da die Zigarettenfabrik geschlossen wurde. Meine Frau tat sich in den meisten Dingen des Lebens leichter als ich. Bereits zwei Wochen später hatte sie in der Nähe von München eine Arbeit in einem Buchladen gefunden. Dort arbeitete sie, bis sie krank wurde. Bücher waren ihr Leben, ich machte mir nie sonderlich viel daraus. Vielleicht habe ich fünf Bücher in meinem Leben gelesen, und das war es dann auch schon. Meine Frau erzählte mir Geschichten aus den Büchern, die sie gelesen hatte, am Morgen, beim Essen und sogar vor dem Schlafengehen. So kann ich beruhigt sagen, kein ganz unbelesener Mensch zu sein. Seit sie tot ist, blättere ich manchmal in ihren Büchern, aber eigentlich nur, um die kleinen Zeichnungen zu finden, die sie manches Mal an die Rändern gemalt hat.
    Jedenfalls: Ich fand keine Arbeit (wie viele andere aus der Stadt auch). Ich hatte nichts zu tun, keine richtige Beschäftigung. Und so fing ich mit diesen Aufzeichnungen an. Legte sogar eine Karte an, in der ich einzeichnete, wo ich die meisten unsichtbaren Kinder durch die Kamera gesehen hatte. Vor meiner Frau verbarg ich das alles, und sie fragte auch nie danach. Die unterste Schreibtischschublade blieb immer verschlossen. Nebenbei fotografierte ich weiterhin Vögel auf Überlandleitungen; Krähen, Raben, Tauben – alles Mögliche eben. Manchmal, wenn sie nicht einschlafen konnte, zog sie mich damit auf. Nannte mich den Vogelmann und stupste mich in die Seite. Aber das war in Ordnung. Besser als der Verrückte zu sein, der Kinder sieht, die sonst niemand sehen kann. Oder?
     
    Wenn man weiß, dass der eigene Tod naht, kann man über alles sprechen. Mein Arzt will mir zwar einreden, ich würde hundert Jahre alt werden, aber was weiß dieser Junge schon vom Leben? Was weiß der schon von den langen, ruhelosen Nächten, von den Dingen dort draußen? Und Sie? Sie wollen Geschichten von mir hören, nicht wahr? Ich habe nur diese. Da ich bald tot sein werde, ist es mir gleichgültig, ob Sie mir glauben oder nicht. Ich habe nur diese eine Geschichte. Und sie ist wahr. So wahr wie mein Sterben.
    Ob ich an Wunder glaube? Was für eine seltsame Frage. Ich glaube nicht an den Kirchenkram mit Auferstehung und Heiligen, soviel steht fest. Aber dennoch muss ich die Frage mit ja beantworten. Denn ich habe ein Wunder gesehen. Wir alle haben das. Aber um dieses Wunder verstehen zu können, muss ich zunächst von der Tragödie erzählen. Von Karla. Karla Gerber. Ich wette um das nächste Bier, dass man sie auch heute noch das Allerheiligenmädchen nennt.
    Damals dachte ich oft: Dieses Mädchen hätte unser Mädchen sein können. Ein wunderschönes Mädchen. Ihre Eltern mochte ich nicht sonderlich. Vor allem nicht ihren Vater. Ein Mann, dem man nicht über den Weg trauen konnte. Es lag an seinen Augen.
    Menschen werfen Schatten. Und in Saras Schatten stand Karla. Karla war eine Königin mit dem Herzen einer Löwin. Manchmal hab ich sie gesehen, als sie mit ihrem Fahrrad an unserem Haus vorbeifuhr, und ein-, zweimal hab ich mit ihr gesprochen. Die Familie wohnt nicht weit von hier, wenn ich ans Küchenfenster gehe und nach Westen blicke, kann ich das Gerber-Haus sogar sehen.
    Wo war ich? Ach ja, Karlas Tragödie. Das war 1986. Dreizehn Jahre nach Murrs Tod und dem Verschwinden der Kinder. Ich glaube nicht an diesen Hokuspokus, Sie wissen schon, die Unglückszahl dreizehn, aber ich glaube sehr wohl daran, dass es Zyklen gibt, in denen sich die Welt verändert. Und mit ihr die Menschen.
    Ich sehe gerade, über die ersten Aufzeichnungen habe ich ein Wort geschrieben: Schuld. Kinder sind ums Leben gekommen, schon immer. 1973 aber war außergewöhnlich. Danach verschwanden weitere Kinder, aber bei Gott nicht mehr so viele ... Und 1986 ... ja, für dieses Jahr gibt es wohl auch ein Wort: Sühne.
    Letztendlich braute sich das Gewitter dreizehn Jahre über uns zusammen.  Jahrhundertunwetter wurde es genannt, danach, als es vorbei war. Ich erinnere mich sehr genau. Alles war überschwemmt, auch unser Haus. Wir waren fast einen Monat lang beschäftigt, wieder Ordnung zu schaffen. Aber das war nicht schlimm, wissen Sie, denn wir waren nicht ernsthaft in Gefahr. Wir nicht.
    Ich habe sie singen hören, dort draußen, als der Sturm kam, und der Regen die Häuser einschloss. Einmal glaubte ich, ein Gesicht zu erkennen. Vor dem Küchenfenster, damals, in der Allerheiligennacht. Und noch heute kann man ihre Stimmen hören,
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