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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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wenn der Wind gut steht. So wie jetzt ...

Der Stromausfall
Herbst 1986
     
    Das Flackern war bereits Mitte Oktober zu spüren, als die ersten Stürme über die Stadt kamen. Klopfende Finger an Glühbirnen, Kerzenstumpen, die vorsorglich aus den Schränken hervorgeholt wurden. Der Spätsommer war kurz und kalt gewesen, der frühe Herbst kam über Nacht. Die Häuser waren längst wetterfest gemacht und die Gartenstühle in den Kellern verstaut.
    Dumpf und weit entfernt erklangen die Kirchenglocken, die wenigen Geschäfte in der Stadt blieben leer. Dort und da sah man Kinder, die mit Papierdrachen die Herbstwinde herausforderten und inmitten des Spiels die noch unwirkliche Gefahr verspürten. Ängstliche Blicke zum Himmel, zarte Stimmen, flüsternd. Dann schweigend. Auf dem Friedhof glommen Grablichter zwischen welken Blumenresten und modrigem Laub. An Murr dachte kaum einer in jenen Tagen, in manchen Nächten aber fiel sein Name zwischen den Schatten, so leise, dass man hätte meinen können, er sei nie ausgesprochen worden.
    Nach Murrs Tod stand die Zigarettenfabrik leer, die großen Tabakkisten immer noch halb voll und mit Staub bedeckt, die Stechuhr lange schon stehengeblieben. Frank Stettler hatte einige der alten Grabsteine befestigen müssen, damit sie den Herbst und Winter überstehen. Herbst, so fand er, war die beste Zeit. Es kamen kaum noch Leute, die sich um die Gräber kümmerten. Hin und wieder eine der alten Frauen, die von Erlösung murmelnd durch die Gänge schlichen und Weihwasser verspritzten.
    Seit vier Jahren wohnte Frank in dem winzigen Zimmer über der Leichenhalle. Kein Mensch außer ihm hätte dort leben wollen, über den erkaltenden Körpern, den fliehenden Seelen ausgesetzt. Er aber genoss die Stille, und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, sah er aus dem Fenster auf die Gräber und fragte sich, was aus der Stadt geworden war. Sein Bruder, der an einem glühend heißen Sommertag in einem Getreidesilo erstickt war, lag irgendwo dort draußen, ebenso seine Eltern. Ihr Grab war verkauft worden, und so zeugte nichts mehr von ihrer Existenz, nur noch ihre löchrigen Knochen inmitten der Erde, vermischt mit dem Staub der anderen.
    Frank war der Erste gewesen, der es entdeckt hatte. Auf dem dunklen Grabstein von Johann Murr und seiner Frau, dort, unter dem Bild des weinenden Jesus von Nazareth hatte jemand mit roter Farbe geschrieben:
Murr – Nahmenmerker. Wir vergesen dich nie!
Die Worte hatten Farbe geweint, ewige Tränen auf kaltem Stein. Auf der feuchten Graberde fand er Abdrücke von Kinderfüßen, kleine, größere, viele.
    Alle wussten, dass Murrs Grab leer war. Niemand hatte ihn und seine Frau geholt, damals, als die Kinder verschwanden. Seit 1973 lag er in seinem Haus und träumte die Träume der Vergessenen.
    Zeit war eine merkwürdige Angelegenheit, fand Frank. Sie machte die Geschehnisse bleich und klein und vermutlich würde man sie irgendwann ganz vergessen.
    Damals war Frank sechsundvierzig Jahre alt, und er hatte geglaubt, ihre Namen niemals vergessen zu können. Aber bereits nach wenigen Tagen schien alles unwirklich, und einen Monat später trieb die Erinnerung in dunkle Tiefen wie ein leckgeschlagenes Boot auf den Grund des Meeres.
    Fast dreizehn Jahre waren nun vergangen.
    Damals, in der Nacht vor Allerheiligen, war Frank aufgewacht und hatte es gewusst. Am nächsten Morgen war die Welt eine andere. Wenngleich Frank auch gehofft hatte, die Familien würden nun endlich aus ihren stummen Häusern kommen, auf die Knie sinken und zu einem Gott beten, ihre Kinder mögen verschont bleiben, war nichts dergleichen geschehen. Die Türen hatten sich verschlossen, die Fenster waren verhangen. Kein Grab ausgehoben, keine Trauerrede gehalten. Eine kaltherzige Erleichterung legte sich über die Stadt, eine Erleichterung darüber, dass nun endlich alles vorüber war: Die schlimmsten Kinder, jene, die den Mond fangen wollten, hatte der Teufel geholt.
    Wenn Frank nicht schlafen konnte und die Leuchtkäfer durch das offene Fenster drängten, fragte er sich, was wohl aus den Kindern geworden wäre. Was wohl aus seinem Bruder geworden wäre. Unerzählte Geschichten, unverübte Taten. Eines Tages würde die Stadt für immer einschlafen, Kadaver leerer Häuser und Straßen würden zurück bleiben, gleichsam Opfer einer Seuche ohne Namen. Vielleicht, ja, vielleicht war es auch so.
    Und dann, wenige Tage vor Allerheiligen, kam der Regen.
     
    Die ersten Wiesen und Felder liefen über, da die Gräben
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