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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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einen traumlosen Schlaf, und sie entkam unbehelligt in die Regennacht.
    Die Luft war anders als sonst. Warm, dann aber wieder eisig. Winteratem zwischen den nackten Kirschbäumen, nasses Laub, das sich an das rote Gummi ihrer Sohlen klebte wie hungrige Zungen.
    Karla sah zum Himmel hinauf. Pechschwarz umschloss er die Stadt. Vereinzelte Blitze erhellten für einen Augenblick die Unwetterwolken, schlugen in das Murr-Haus auf dem Grabhügel ein, fuhren durch den Schornstein ins Herz des Gebäudes. Mit acht Jahren hatte sie zusammen mit ihrem Vater (damals, als alles noch in Ordnung war) im Abendprogramm »Frankenstein« angesehen. Daran musste sie denken, als sie zum Grabhügel sah. Sie fröstelte. Für einen kurzen Moment blieb sie stehen und überlegte, wieder umzukehren. Das warme Bett, die Augen fest zugedrückt und irgendwann würde sie einschlafen. Doch dann dachte Karla an das Licht hinter den Fenstern der alten Fabrik. Sie musste herausfinden, was dort vor sich ging. In ihrer Hosentasche fand sie einen Haargummi und band ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz. Dann schlug sie den Kragen ihrer Lieblingsjacke hoch, an deren Brusttasche ein gelber Button mit der Aufschrift
Atomkraft? Nein danke!
steckte, und ging los.
     
    Katzen stromerten in den Gassen, saßen auf Mauervorsprüngen, Hunde schnappten nach Regentropfen. Sperlinge, die von einem Fensterbrett zum anderen stoben, öffneten ihre Schnäbel und warnten das Mädchen mit spitzen Schreien.
    Die Hauptstraße, die zur Kirche führte, war völlig überschwemmt. Knietiefes, dunkles kaltes Wasser. Die Gullys waren längst verstopft von Ästen, Laub und toten Tieren. Im Osten konnte man den Grünen See schimmern sehen, sein Wasser immer weiter zur Stadt flutend. Dicke Baumstämme, die von den Stürmen abgerissen worden waren, schwammen darauf. Auf der anderen Seite der Straße prangerte ein schnell zusammengezimmertes Durchfahrtsverbotsschild mit schlampig aufgemalten roten Streifen. Ein Brett hatte sich gelöst und klapperte im Wind.
    Wasser lief in Karlas Stiefel, der Regen durchnässte ihre Jacke und Jeans. Sie warf einen Blick zurück, das Elternhaus aber war längst verschwunden. Sie ging weiter, langsam, vorsichtig, um nicht zu stolpern, wer wusste schon, was die Fluten mit sich trugen.
    Natürlich waren auch die Straßenlampen ausgefallen. Alleine das Leuchten der Blitze wies ihr den Weg.
    Aus den Kellerschächten wurden vergessene Dinge geschwemmt, die für Minuten auf dem Wasser trieben und dann in seiner Tiefe verschwanden. Einzelne Schuhe, durchweichte Bücher, die niemand mehr lesen würde, bunte Papierblätter mit Zeichnungen aus Wachskreide. Karla dachte an die Geschichten, die Kinder manches Mal in der Schule erzählt hatten, wenn die Herbsttage kamen und die Himmelsfärbung zu den Geschichten passte. Von Murr, von dem es hieß, er würde das Wetter bestimmen, würde den Regen kommen lassen und die Gewitter. Auch den ersten und den letzten Schnee. So recht daran glauben mochte sie nicht. Dennoch fühlte sie sich unwohl, wenn sie zu dem Haus dort oben sah. Natürlich hatte sie auch von den toten Kindern gehört, die man an bestimmten Tagen zu Mitternacht sehen konnte. Daran hatte Karla nie geglaubt, nicht einmal als kleines Mädchen, heute aber kamen ihr die Bilder nicht unwirklich vor.
    Sie schritt an den Häusern entlang, auf dem selben Weg, den sie jeden Schultag ging. Jetzt aber war alles anders, jede Fuge und jede Ritze der Gebäude hatte sich verändert. Klaras Blick irrte umher, auf der Suche nach ... was?
    »Papa? Papa? Wo bist du?« Eine Kinderstimme, weder fern noch nah, weder warm noch kalt, weder gütig noch grausam. Nur gleichgültig, als rufe man nach einem Hund, den man längst aufgegeben hat. Eine schiefe Melodie auf einem Klavier, jeder Tastenanschlag falsch.
    All das hinter den dunklen Fenstern.
    Und dann endlich war sie da. Die alte Zigarettenfabrik, das Tor verschlossen seit Murrs Tod.
    Regenfinger streiften Karlas Gesicht, ihre Hände vor Kälte steif, vergraben in den Jackentaschen. Ihre Lungen verkrampft vor Anspannung.
    Das Flackern hinter den Fenstern wurde schneller, wilder, und das Tor ging auf.
    »Wir haben dich erwartet.« Der Junge hielt eine Kerze in der Hand und wies in die tiefe Schwärze der Eingangshalle. »Komm!«
    Er verschwand in der Dunkelheit, aus der er gekommen war. Und Karla folgte ihm.
     
    »Papa? Papa? Wo bist du?«
    Natürlich konnte er den Jungen hören. Vage Erinnerungen blitzten hinter
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