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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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nahm ihre Hand und führte sie zu den Kindern, die in einem Kreis um eine Petroliumlampe saßen. Sie erzählten sich Geschichten aus den Büchern in ihren Händen.
    »Hier.« Tom bückte sich, nahm eines der Bücher und schlug es auf. Karla kannte dieses Buch: »Wo die wilden Kerle wohnen«. Eine alte Ausgabe, der Umschlag fehlte. Jemand hatte im Text den Namen
Max
mit
Karla
überschrieben. Max war die Hauptfigur der Geschichte, ein Junge, der Abenteuer erlebt, die es nur in Büchern gibt. Nun erlebte sie Karla.
    »Oder hier.« Ein anderes Buch, das Karla nicht kannte: »Fahrenheit 451«. Tom ließ die Blätter fliegen, beinahe auf jeder Seite stand ihr Name.
    Karla steckte ihre Kerze in die Öffnung einer der Maschinen und nahm das Buch.
    »Wer hat das gemacht?«
    »Ich weiß es nicht. War schon so, als wir hierher kamen.«
    »In jedem Buch?«
    »In jedem Buch. Auch in ›Moby Dick‹. Tausend Mal dein Name.«
    Karla schüttelte den Kopf.
Nein!
Sie hatte nicht schlafen können. Sie war durch das Unwetter gelaufen, hatte die leisen Stimmen hinter sich gelassen, um herauszufinden, was in der alten Fabrik vor sich ging.
Bitte!
Sie hatte auf eine erlösende Antwort gehofft.
Bitte nicht!
Und stattdessen eine Frage erhalten, die ihr für lange, lange Zeit den Schlaf rauben würde.

In der Leichenhalle
Allerheiligennacht 1986
     
    Frank blickte hinaus in die regendunkle Nacht, die Hände auf dem kalten Fenstersims abgestützt, das Fenster weit geöffnet. Allerheiligen, Tag der Gespenster. Seine Eltern hatten immer Kerzen in die Fenster gestellt, rabenschwarze Wetterkerzen. Es mussten geweihte Kerzen sein, natürlich. Einige Jahre lang hatten sie sogar Glasscherben über den Hof verteilt, die er und sein Bruder am nächsten Morgen wieder einsammeln mussten.
    Es gab keine unheimlichere, keine merkwürdigere Nacht als jene. Beklemmend die Abendstunden in der kleinen Küche, Weihrauch, der auf dem Holzofen verbrannt wurde, tagelang würde man es riechen können. Siebenjähriges Buchenholz, das im Ofen schnalzte. Holz, das man nur für diesen Abend bereitgehalten hatte, den Namen des Herrn eingeritzt.
    Sie hatten unweit des Grünen Sees gewohnt, dort, wo der Teufel übers Wasser ging, jeden Augenblick ein anderes Gesicht. In den Bachläufen schimmernde Patronen und Blindgänger. Inmitten des Waldstückes ein Bombenkrater, in dem Brennnesseln wucherten.
    Dort und da frisch aufgeworfene Erde, hastig vergrabene Hakenkreuzfahnen und Hitler-Portraits in zerbrochenen Rahmen. Er und sein Bruder hatten Krieg gespielt, Frank war immer ein Amerikaner gewesen, einen unsichtbaren Kaugummi kauend. Sein Bruder hatte immer einen Deutschen gespielt, einen Weidenstock als Maschinengewehr im Gürtel, griffbereit, siegessicher.
    Manchmal, wenn sein Vater betrunken genug war, hatte er davon erzählt, wie die amerikanischen Soldaten in die Stadt gekommen waren. Kein Mund ohne Zigarette oder Kaugummi. Von ihrem Kauderwelsch verstanden sie kein einziges Wort. Außer natürlich den Ortsnamen Dachau, das hatten sie sehr wohl verstanden, auch wenn die Amis ihn seltsam aussprachen. Dachau lag eine Stunde entfernt von hier. Jeder in der Stadt wusste, dass Leute dort hingebracht wurden. Manchmal kamen sie hier vorbei, zu Fuß. Immer zwei nebeneinander. Sie sahen nicht aus, als hätten sie Hoffnung, jemals wieder zurückzukehren. Aus der Stadt hatten sie die Lembergers mitgenommen – Lemberger, seine Frau und seine drei Kinder. Ihren Gemischtwarenladen übernahm die alte Erlingerin, ohne, so hieß es, je dafür bezahlt zu haben.
    Wenn Franks Vater so betrunken war, dass seine Stimme undeutlich wurde, setzte er gerne nach: »Um die war es nicht schade. Judengesindel.« Als die amerikanischen Soldaten kamen und nach Dachau und dem Konzentrationslager fragten, schüttelte er jedoch den Kopf. Alle schüttelten den Kopf. Nein, davon wisse man nichts. Gar nichts.
    Vielleicht, und das dachte sich Frank schon damals, hatten sie deshalb Angst vor dieser Nacht. Angst davor, dass sie wiederkommen würden. Egal, ob sie sich nun im Hof die Füße an den Glasscherben blutig schnitten oder nicht. Sie hatten im Leben weitaus Schlimmeres erfahren. Was kümmerten sie aufgeschlitzte Fußsohlen im Tod?
    An all das musste Frank denken in dieser Nacht zu Allerheiligen, als er aus einem kurzen Schlaf aufgewacht war, sich an den Bettrand gesetzt und eine von den zerbrochenen Murr-Zigaretten geraucht hatte, die so trocken waren, dass man nur wenige Züge erwischte. Er dachte
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