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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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ging nicht nach unten. Er stolperte, taumelte. Er fiel, blieb für wenige Sekunden (oder Stunden?) liegen. Dann zog er sich am Tisch hoch, versuchte, die Balance wiederzuerlangen, atmete schwer, ängstlich und verwirrt. Danach war eine Zeit lang alles voller Nebel. Er roch frische Minze, roch Sommertage und Herbstanfänge. Die Traumgeäste ragten hoch, waren weit verzweigt, undurchdringlich. Aus dem Radiogerät strömten Musikfetzen unbekannter Lieder. Er schleppte sich aufs Sofa, lag dort, zusammengekrümmt, bis der Nebel verschwunden war, sein Herzschlag sich beruhigt hatte. Dann sah Frank, was er getan hatte: aufgeschlagene Bücher, im ganzen Zimmer verstreut. Mit kleinen Kohlestücken aus dem Holzofen hatte er Namen gestrichen, geschwärzt. Mit der Schrift seiner Kindheit ein Mädchen benannt, das er nicht kannte. Karla.
    Frank hatte keine Angst um die Kinder dort draußen. Ihre Herzschläge würden sie an den richtigen Ort führen. Aber um die Stadt sorgte er sich. Vor dreizehn Jahren waren die vier Kinder im Murr-Haus gestorben und dort geblieben. Niemand war hinaufgegangen, um sie nach Hause zu holen. Das ist wohl das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, dachte Frank. Wenn man niemandem fehlt, wenn die Lichter gelöscht und die Haustüren verschlossen werden, als wäre nichts geschehen.
    Er drückte seine Zigarette am Fensterbrett aus.
    Dann hörte er sie kommen.

Das Allerheiligenmädchen
Allerheiligennacht 1986
     
    »Es ist besser, hier zu sein«, flüsterte Tom. Er zündete eine neue Kerze an, einen dicken heruntergebrannten Wachsstumpen. Karla stand neben ihm und nickte.
    Ein Junge, den sie auf dem Schulhof immer Charlie genannt hatten (weil er Charlie Brown von den
Peanuts
ähnelte), saß auf einer leeren Tabakkiste und las aus einem Buch vor. Charlie war immer der Junge gewesen, der im Winter mit dem Gesicht im Schnee lag. Im Sommer immer der Junge, der verlassen am Rand des Sportplatzes stand, weil er nicht so schnell laufen konnte wie die anderen. Karla hätte nicht gedacht, dass Charlie überhaupt lesen konnte. Aber er las, als hätte er nie etwas anderes getan.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagte Tom.
    Karla löste ihren Blick von Charlie und sah Tom an: »Tatsächlich?«
    »Du hast gedacht, Charlie wäre ein Blödmann. Ein Dummkopf. Und jetzt sitzt er da und liest Charles Dickens »Weihnachtsgeschichte« vor. Er liest sie so, als hätte er sie selbst geschrieben. Charlie, den sie noch vor ein paar Wochen ins Schulklo gesperrt haben.«
    Karla erinnerte sich. Jungs aus der siebten Klasse hatten die Tür zugedrückt und ihn erst rausgelassen, als er ihrer Aufforderung nachgekommen war und seine Jeans über die Tür geworfen hatte, die sie dann wie eine Siegesfahne auf dem Schulhof gehisst hatten. Natürlich hatten alle gelacht, als Charlie in seiner Unterhose, ein altes weißes Ding, durch die Flure geschlichen war. Selbst der Mathematiklehrer, Herr Jehner, hatte gelacht, bis ihm die Tränen gekommen waren.
    Vielleicht war es gerade das, was am Kindsein so schwer war, dachte Karla. Natürlich würde es immer Kinder geben, die anderen Kindern, schwächeren Kindern, etwas antaten. Da war es egal, wo man lebte. Kinder, die stärker, schneller waren, mit furchtlosen Herzen, ohne Reue. Kinder, die anderen Kindern Frösche in die Hose stecken. Das Schlimmste aber waren die Erwachsenen, die nichts davon verstanden, aber dennoch die Wege lenkten. Erwachsene wie Herr Lehner, der nicht eingeschritten war, sondern zugesehen hatte, mitgelacht hatte.
    Als Charlie ihren Namen las, spürte Karla einen Lufthauch im Nacken. Sie betrachtete den Jungen, der plötzliche verstummte und zu ihr aufblickte. Das Licht der Kerzen, flackernd im Herbstwind, der durch die Ritzen jagte, bemalte sein Gesicht. Und beide wussten es: Er war kein Verlierer mehr.
    Toms Stimme riss Karla aus ihren Gedanken: »Oder Leonard Bloch. Eine Zeit lang war er sogar in einer Idiotenschule, du weißt schon, eine Schule für Behinderte.«
    Karla erinnerte sich auch daran. Ein, zwei Jahre hielt neben der Kirche der kleine weiße VW-Bus, öffnete sein Maul und entblößte den Blick auf die Jungen und Mädchen, die darin saßen. Ihr Vater hatte behauptet, diese Kinder seien völlig verblödet und zu nichts zu gebrauchen. Natürlich hatte Karla ihm geglaubt. Aber nur für eine Weile.
    »Aber soll ich dir was sagen? Er war der Erste hier. Und er war der Einzige, der an Kerzen gedacht hat. Sonst säßen wir hier im Dunkeln. Ich hab ihn gefragt,
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