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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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vorgestellt«, flüsterte Leonard, und Magdalena schniefte.
    »Ihr wisst schon. Knochen und so. Oh oh, keine schöne Sache.«
    Tom schwieg, sah Leonard so lange an, bis dieser schließlich sagte: »Okay, okay, Ich mein ja nur.«
    Karla wandte den Kopf zur Seite, als eine tote Katze an ihr vorbeitrieb.
     
    Ein Mann – sie kannten ihn von den Sonntagen, an denen er auf der Sitzbank vor der Kirche rauchte und Bier trank, stolperte aus einem Haus. Sein Gesicht war kalkweiß, er schrie: »Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht. Herr im Himmel, das wollte ich nicht.«
    Er hatte sich eingenässt, seine Hose hing tief. Er rutschte aus und fiel hin. Als er sich wieder aufrappelte, blickte er um sich und bemerkte die Kinder.
    »Geht weg, weg. Ich habe euch nichts getan. Nichts. Geht weg. Bitte, bitte, bitte!« Seine Stimme war heiser, panisch.
    »Seht nicht hin«, sagte Tom. Er blickte auf seine Schuhe, Karla schloss ihre Augen und senkte ebenfalls den Kopf.
    Ein Junge sang ein Lied, dort in dem finsteren Haus. Seine Stimme war klar und schön:
     
    Mein Kind, sei nicht traurig, tut der Abschied auch weh.
    Mein Herz geht an Bord und fort muss die Reise gehn,
    dein Schmerz wird vergehn und schön wird das Wiedersehn.
     
    Sie hörten die stolpernden Schritte des Mannes, hörten ihn abermals fallen. Dann ein Fauchen, wie das eines wilden Tieres.
    Die Kinder wagten nicht aufzuschauen.
    »Ich habe Angst vor dem Kleiderschrank in meinem Zimmer«, sagte Magdalena plötzlich, so als wollte sie die anderen ablenken. Ihre Stimme durchbrach den Regen, die Dunkelheit, ihre Angst.
    Leonard nickte und sagte: »Ich auch. Ich glaube, dass da jemand wohnt. In dem Schrank. Aber nur nachts.«
    Karla griff nach Toms Hand. Er umfasste ihre kalten Finger, ohne sie anzusehen.
    »Ich glaube, dass man stirbt, wenn man Kaugummi runterschluckt.«
    »Dann explodiert man.«
    »Stimmt!«
    »Und wenn man Apfelkerne runterschluckt, dann wachsen einem Bäume aus dem Nabel.«
    »Quatsch!«
    »Bei meinem Onkel war es so, ich schwöre es!« Leonard nahm Magdalenas kleine, zitternde Hand in die seine.
    Es tat gut, von Apfelkernen und Bäumen zu sprechen. In ihnen steckte die Wärme des Sommers und die Hoffnung auf eine neue, bessere Zeit.
    Die Anhöhe kam näher. Sie schritten voran, die Blicke noch immer gesenkt.
    »Weg da!«, flüsterte ein Kind, das ihren Weg kreuzte, unsichtbar, und doch wirklich. Für einen Moment lang rochen sie frische Apfelsinen, Zimt und Plätzchenteig. Zerbrochene Visionen verlorener Kinder.
    Dann hörten sie einen Schrei. Weit entfernt, viel zu nahe.
    Karla hielt inne und lauschte.
    Ein zweiter Schrei folgte.
    Arik!
    Tom schrie Karla etwas zu, doch sie vernahm nur Geräusche, keine Wörter, die Sinn machten. Sie riss sich los und rannte in die nächste der schmalen Gassen. Sie rannte zurück, den Kopf in den Nacken gestreckt, und betete:
Oh Gott, bitte beschütze ihn. Bitte, oh Arik ...
    Arik. Sie hatte Arik vergessen.

Der Knochenmann sieht aus dem Fenster
Allerheiligennacht 1986
     
    Pfützen und kleine Seen, das Löwenzahnfeld überschwemmt. Die Strommasten der Gegend standen schief, einige davon waren umgeknickt, die Leitungen gerissen. Hier, im roten Haus, funktionierte die Stromleitung ohnehin nur selten. Längst hatte sich Christoph daran gewöhnt, dass er mit einem Gasbrenner kochen musste. Telefon hatte er nie gehabt, und so wie es draußen aussah, konnte auch niemand anderes telefonieren, vielleicht sogar nicht einmal die nächsten zwei Wochen. Das waren die Zeiten, in denen er froh war, dass das Haus keinen Keller hatte, die wenigen Habseligkeiten lagerte er auf dem schmalen Dachboden.
    Natürlich hatte er es gespürt. Hatte es kommen sehen. Fühlte sich wie damals, als der Junge, der zurückgekehrt war. Er dachte an damals, als sie zwischen den Straßenlaternen gestanden hatten, an Sara. Er spürte ihre Hand auf seinem Unterarm und roch noch immer den Duft ihrer Sommerhaut. Immer, wenn sie ihm ganz nah war, hatte er das Gefühl, die Welt wäre eine andere, die Winde wären für ewige Zeit warm und gütig. Spätsommerträume waren das, auf dem Bett liegend geträumt, in den Sonnenstrahlen wilde Staubkörner. Draußen auf den Straßen und in den Vorgärten entstanden die Geräusche einer fremden Welt, in seinem Kopf die Gedanken, die er versuchte einzufangen, geradeso wie einen in die Höhe fliehenden Papierdrachen am Herbsthimmel. Nein, er wollte nicht so werden wie sein Vater oder wie seine Mutter. Alleine, fremde
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