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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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Wochenenden besuchen. Er würde Münzen verschwinden lassen auf den Geburtstagen der Kinder, würde wachen an den Fieberbetten, sie beschützen, sie alle.
    Aber nichts von dem würde geschehen. Die Stadt und die Menschen darin hatten Christoph um sein Leben betrogen. Ein Stück seines Herzens fehlte, Erfüllung zu finden war unmöglich.
     
    Doch im Zwielicht dieser Nacht sah er sie.
    Christoph erhob sich aus dem Stuhl, viel zu schnell. Ihm wurde schwindelig, der Stuhl kippte nach hinten und fiel um.
    Da!
    Im Löwenzahnfeld, zwischen den großen Pfützen, den Rinnsalen und Bachläufen, dem eisigen trüben Wasser, stand ein Mädchen. Sie trug ein Sommerkleid mit roten Blumen, Mohn oder Rosen, dazwischen das Gelb der Sonne. Ihre Haare hellbraun, zwei Zöpfe, nass vom Regen. 
    Das Mädchen zog aus der Seitentasche ein Stück Papier, das im Wind flatterte, so als ob es jeden Moment davongeweht werden würde, und legte es auf die Wasseroberfläche.
    »Warte!«, rief Christoph. Er stolperte zur Tür, riss sie auf, rannte hinaus.
    Doch Sophie war verschwunden.

Karla und Arik sehen ein Ungeheuer
Allerheiligennacht 1986
     
    Die Welt flog an ihr vorbei. Sperlinge berührten ihren Kopf, Regentropfen zerplatzten in ihren Augen. Wie in aller Welt hatte sie nur ihren Bruder vergessen können? Ihre roten Gummistiefel rutschten, doch Karla kümmerte sich nicht darum. Schlitterte, stolperte, fing sich und rannte weiter. Rannte durch tiefe Wasserstellen, sprang über verschwundene Bordsteinkanten.
    »Du Miststück!«, schrie eine alte Stimme aus einem Fenster, dessen Glas zerbrochen war. Ein Geräusch von einer Ohrfeige, laut. Dann ein Kreischen, ein tiefes Knurren, wie das eines tollwütigen Hundes.
    Karla blickte hinauf. Dachfirste brannten. Fernsehantennen, verbogene Metallfinger, knarrten, schlitterten herunter, verfingen sich in Dachrinnen.
     
    »Wir müssen zurück! Sofort!«, schrie Tom und zog die anderen zu sich heran. Der Weg zum Murr-Haus hatte sich vergrößert, breit war er geworden, unendlich lang. Ohne Karla war ein Weitergehen sinnlos. Sie würden es niemals bis zum Haus schaffen, und wenn, dann würden sie ebenso sterben wie die Kinder dort oben. Die Fabrikhalle war der einzig sichere Ort in dieser Stadt.
    Leonard schluchzte.
    Eine ihrer Lehrerinnen, Frau Albrecht (sie nannten sie die Mumie, weil sie schon mindestens hundert Jahre unterrichtete), kam rückwärts gehend aus ihrem Haus. Sie trug ein Nachthemd, das an den Ärmeln eingerissen war. In der Schule trug sie eine Perücke, die so manches Mal verrutschte und die Schüler zum Kichern brachte. Doch jetzt fehlte sie. Der elfenbeinfarbene Flaum auf ihrem Kopf ließ sie tatsächlich wie eine Mumie aussehen.
    »Zwei mal zwei ist vier, fünf mal zwei ist zehn. Faule Schüler müssen in der Ecke stehen!« Sie hob ihre Stimme, doch der Wind trug sie davon. Sie reckte den Zeigefinger, drohend, vor Kälte und Wahnsinn zitternd.
    Die Kinder erinnerten sich daran, wie sie in der Ecke gestanden hatten. Einmal, zweimal, viele Male. Das Gesicht zur Wand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
    Sie gingen schneller, weg, nur weg, zurück zur Fabrik.
    Magdalena stolperte über Unrat. Leonard fing sie auf.
    Dann geschah es.
    Ein Blitz schlug in den höchsten Strommasten, Funken stoben davon wie glühende Schneeflocken.
    Ein Mädchen rief: »In die Ecke, in die Ecke, bis du verreckst, alte Hexe!«
    Ein Junge kicherte.
    Sie kamen aus dem Haus der Mumie, als hätten sie dort gelebt, schlafend zwischen den dünnen Wänden, erwacht durch den ersten Donnerschall. Feiner Kreidestaub an ihren starren Händen.
    Die Geräusche der Nacht verstummten, der Regen fiel schweigend.
    Alle Herzen schlugen schnell. Die lebenden, die toten. Nur das sterbende Herz kam zur Ruhe.
     
    Die Haustür flog auf, und Karla rannte auf der alten Holztreppe nach oben.
    Arik schrie noch immer, lauter, als jemals zuvor, er schrie so laut, dass Karla dachte, er müsse ersticken. Sie würde zu spät kommen und ein zweijähriges Kind finden, das Gesichtchen blau und verzerrt, die Augen voll trüber Angst.
    Jeder ihrer Schritte trug seinen Namen.
    Arik! Arik! Arik!
    Dann endlich erreichte sie das Schlafzimmer ihrer Eltern, riss die Tür auf und sah es: Das Ungeheuer, das einmal ihr Vater gewesen war. Er war nackt bis auf die schäbige Unterhose, die ein Stück heruntergerutscht war. Seine Haut war aschfahl, und er roch nach Urin, Schweiß und Bier. Die rechte Hand umschloss einen Schraubenschlüssel, der im
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