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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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Ich sehe dein Gesicht an: so blass, so friedlich, und ich verspüre immer noch das alte, vertraute Gefühl und misstraue ihm, noch während ich es empfinde. Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich nichts anderes spüre als diese Nähe. Auch jetzt …
    Ich werde dieses Gefühl niemandem erklären können: Ich darf es nicht empfinden angesichts der Geschehnisse, angesichts der Zukunft, meiner Zukunft. Aber es ist so, und langsam nehme ich sie hin, diese Bewegung, die alles zu überdauern scheint.
    Allein stehe ich da, zum ersten Mal, in jeglicher Bedeutung des Wortes: gedanklich, körperlich, seelisch. Aber auch diesmal scheint mein Gefühl, dein Gefühl, also das Gefühl, das ich nun, hier, dein Gesicht vor meinen Augen, verspüre, jegliche Angst zu überwinden, sie auszublenden. Es bleibt nur diese ungeheure Nähe, diese Sanftmut.
    Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass du mir immer diese sanfte Nähe hast geben können; denn kein Gefühl kann sanft sein, weil Sanftheit in sich schon begreift, dass sie nicht währt, dass sie eine Erscheinung ist, die nadelstichartig auftaucht und sich im Nichts verliert. Aber meine Sanftheit dauert an, sie ist eine andere, sie ist dauerhafter als alles andere in meinem Leben. Und ich habe schon lange aufgehört, sie zu hinterfragen …
    So sitze ich hier, ein paar Tage vor meiner Abreise. Ich sitze hier, am Strand, an deinem und meinem Strand, von wo aus wir immer in das kalte Wasser hinausgeschwommen sind, im Sand, der kühl und feucht ist, weil es seit zwei Tagen regnet.
    Ich werde gleich meine Haare abschneiden und den neuen Gedanken und dem kühlen Wind kahl begegnen. Strähne für Strähne werde ich leichter, gewichtsloser und vielleicht auch freier. Ich sitze in unserer Bucht, wo sich keiner außer uns hin verirrt hat, weil der Ort so kalt und rau scheint; ich sitze hier, wo ich dir das erste Mal meine Liebe habe darbieten wollen und du sie noch nicht hast annehmen können, wo wir so viele Morgen- und Abendstunden verbracht haben, in den Zeiten, nachdem du wieder die Sprache erlernt hattest; wo wir so oft unsere Geheimnisse, Versprechen, Wünsche, Pläne dem Meer zugeflüstert haben.
    Ich sitze hier. Ich sehe dich an, und ich empfinde den Urrausch der Nähe, ich tanze diesen Rausch am Grab der Einsamkeit, denn nichts anderes ist die Nähe für mich als eine Verleugnung jeglicher Einsamkeit, ein Sieg aller elementaren, dionysischen Gier.
    Ich bin sanft, ich bin weich wie Wolle, und mein Inneres ist seidig glatt – ganz als wäre ich ein Baby, ein Fötus, geborgen, erwünscht und unberührt von der Welt.
    Du hast mir so oft gesagt, ich hätte vergessen, wer ich sei, und vielleicht stimmt es sogar. Und vielleicht habe ich es mit dir auch nie gewusst. Vielleicht habe ich es erst erkannt, als ich aufhörte, diese Sanftheit in mir zu bekämpfen, vielleicht erst, als ich mich an ihr satt gegessen hatte, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich nicht du bin, nicht mehr. Und genauso wenig wie das Alleinsein, die Stille, die Fragen, die nach all dem kommen werden, die sich vielleicht in dem Wort Zukunft zusammenfassen lassen, macht mir diese Erkenntnis Angst. Ich werde weinen müssen. Alles Einverleibte werde ich hervorwürgen müssen, und keiner wird meine Stirn dabei halten, auch das ist mir bewusst. Aber was macht das schon?
    Ich sehe dein Gesicht an. Du bist schön. Nach wie vor bist du wunderschön, und ich muss lächeln. Ich sehe dein Gesicht an und denke, dass ich dir dankbar bin für diese sanfte Nähe und diese grausame Fremdheit. Dass ich diese Nähe – auch wenn ich das Gefühl niemals mehr mit jemandem teilen kann und es damit irgendwann zum Sterben verurteilt ist – loslasse.
    Ich sehe dich an.

1.
    Eigentlich fing es mit dem Ende an.
    An diesem Morgen rief Tulja an und sagte, er sei da. Sie hatte mich geweckt. Mark hatte Theo zur Schule gebracht, und ich war im Bett geblieben – mit dem schlechten Gewissen, nicht aufgestanden zu sein, kein Frühstück gemacht und keine Rolle gespielt zu haben bei dem gemeinsamen Morgen mit meiner Familie –, trotzdem war ich liegen geblieben, die Überwindung meines schlechten Gewissens war leichter, als ich befürchtet hatte, und mein Morgenschlaf es wert, jede Sekunde des grauen Hamburger Morgens zu verpassen.
    Nicht lange nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, fing das Telefon an zu klingeln, und als es nicht aufhörte, quälte ich mich fluchend, der Vergeudung kostbarer Schlafminuten wegen fast den Tränen nah, aus dem
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