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Kinder

Kinder

Titel: Kinder
Autoren: Jürgen Seibold
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oben auf dem Podium abwehrend die Hände und trat
tatsächlich ein paar Schritte vom Mikrofon zurück, als beuge er sich den
wütenden Zwischenrufen. Doch er machte Platz für Ursel Weber, die nun zusammen
mit ihrem Mann und ihrem Sohn Benjamin die Treppe hinaufkam und ans Mikrofon
trat. Der Mann im Mantel sagte mit knappen Worten etwas ins Handy, dann steckte
er das Telefon in die Tasche, ohne das Gespräch zu beenden, und sah gebannt zum
Podium hin.
    »Mein Name ist Ursel Weber, das ist mein Mann Achim und das hier
mein Sohn Benjamin«, begann die Frau ins Mikrofon zu sprechen. »Es fällt uns
nicht leicht, hier oben zu stehen, und wir würden lieber schweigen über das,
was wir zu sagen haben – aber ich mag es nicht länger hinnehmen, wenn hier jemand
von Ihnen allen lautstark beschimpft und verleumdet wird. Von uns allen, denn
bis vor Kurzem habe ich Herrn und Frau Pietsch als ebenso störend empfunden wie
Sie jetzt. Ich wollte nicht zuhören, als mir Herr Pietsch unangenehme Dinge
über meinen Sohn Benjamin erzählte – und weiß jetzt von meinem Sohn, dass alles
noch weit schlimmer ist, als es Herr Pietsch schilderte.«
    Sie sah in die Runde, dann nahm sie ihren Sohn in den Arm und schob
ihn ein kleines Stück auf das Mikrofon zu.
    »Benjamin hat Ihnen etwas zu sagen – und ich hoffe, dass Sie
wenigstens ihn nicht beschimpfen, wenn Sie von ihm schon die Wahrheit hören
müssen.«
    Der Junge trat noch einen halben Schritt nach vorn, und Ursel Weber
stellte das Mikrofon auf seine Größe ein.
    »Ich …«, begann Benjamin, aber er kam nicht weiter, sondern sah zu
seiner Mutter auf und schüttelte den Kopf.
    Ursel Weber ging kurz in die Hocke und sprach leise mit ihrem Sohn.
Dann stellte sie das Mikrofon wieder höher und nahm Benjamin erneut in den Arm.
    »Sieht so aus, als müsste ich für ihn sprechen. Aber glauben Sie
mir: Er hat mir nichts anderes gesagt als das, was ich Ihnen jetzt mitteilen
werde – und er ist einverstanden, dass ich nun in seinem Namen spreche. Stimmt
das, Benjamin?«
    Der Junge nickte und drückte sich etwas enger an seine Mutter.
    »Kevin ist nicht von allein vor das Auto gestürzt, das ihn
überfahren hat«, sagte sie und machte eine Pause.
    Im ganzen Schulhof war kein Wort mehr zu hören, alle starrten
gebannt auf die Frau, als müssten sie sich erst darüber klar werden, was sie da
gerade gehört hatten. Marius und Hype, die in der Nähe ihrer Eltern standen,
sahen ebenso gebannt auf ihren Kumpel wie Claas, der bis zu Kevins Unfall
ebenfalls mit den dreien befreundet war.
    Christine Werkmann, der Ursel Weber schon alles erzählt hatte, sah
mit zusammengepressten Lippen nach oben, als wolle sie nur ja keine Tränen
zulassen. Rektor Wehling sah fragend zwischen ihr und den Moellers hin und her,
beide Lehrer standen bewegungslos, allerdings wirkte Franz Moeller sehr
angespannt.
    »An dem Morgen, als der Unfall geschah, war Benjamin zusammen mit
seinem Freund Marius unterwegs zur Schule«, fuhr Ursel Weber fort. »Sie kamen
gerade an und sahen Kevin und Lukas vor dem Schulhof aufeinander zugehen.
Zwischen Kevin und der Bordsteinkante drängten sich zwei Mädchen durch, und
Benjamin und Marius gingen hinter den beiden – allerdings auf der anderen Seite
ihres Klassenkameraden. Sie hatten Kevin nicht lange davor zusammen mit ihren
Kumpels Claas und Heiko verprügelt – und nun wollten sie ihm noch ein wenig
Angst einjagen, damit er niemandem verriet, dass sie es gewesen waren. Als die
Mädchen an Kevin vorbei waren, trat er wieder etwas näher an den Straßenrand
hin, mein Sohn und Marius liefen von hinten an ihn heran und …«
    Sie machte eine Pause, atmete ein paar Mal tief ein und aus.
    »Dann hat Marius ihm irgendeine Drohung ins Ohr gezischt, und
Benjamin packte ihn an der Jacke. Im selben Moment drehte sich Kevin um, bekam
einen Schreck, riss sich los, stolperte – und fiel auf die Straße, direkt vor
das Auto.«
    Christine Werkmann hatte den Kampf gegen die Tränen verloren, sie
sah schluchzend hinauf zu Ursel Weber und Benjamin und nickte den beiden zu,
als sei sie dankbar, dass sie den Mut gehabt hatten, all das öffentlich zu bekennen.
    Benjamin sah elend aus, aber auch erleichtert. Marius versuchte sich
davonzuschleichen, aber der eiserne Griff seines Vaters und dessen strenger
Blick ließen ihn wie angewurzelt stehen bleiben. Hype sah zu Claas hin, und der
nickte nur traurig. Im Schulhof begannen sich immer mehr Menschen angeregt
miteinander zu unterhalten,
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