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Kinder

Kinder

Titel: Kinder
Autoren: Jürgen Seibold
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Zwischenrufe waren nicht zu hören.
    Am Podium war nun auch Familie Weber zu Rainer und Annette Pietsch
in den Hintergrund getreten, zwei Frauen und zwei Paare betraten die Bühne.
    »Mein Name ist Klara Schulze«, sagte eine der Frauen ansatzlos in
das allgemeine Gemurmel hinein, schnell wurde es wieder still im Schulhof.
Rektor Wehling ging ein Stück auf das Podium zu und sah noch einmal zu den
Moellers hinüber: Nun wirkten die beiden doch einigermaßen unruhig, Franz
Moeller redete leise auf seine Frau ein.
    »Ich war bis vor drei Jahren Elternbeirätin des Internats
Cäcilienberg in der Nähe von Gerolstein in der Vulkaneifel. Damals wurde direkt
vor dem Internat ein Schüler überfahren – der Fahrer beging Unfallflucht und
konnte nie ermittelt werden. Im Schuljahr zuvor hatte sich ein Mädchen im
Keller des Internats erhängt: Ina Speidler. Ihre Eltern sind heute ebenfalls
hier.«
    Sie deutete auf eines der beiden Paare neben sich.
    »Ich hatte damals darauf bestanden, dass in beiden Todesfällen
ermittelt wird – doch die Schulleitung hatte kein Interesse daran, dem Internat
negative Schlagzeilen zu bescheren, also wurde alles unter den Teppich gekehrt.
Daraufhin habe ich mein Amt als Elternbeirätin niedergelegt.«
    Einige Zuhörer sahen sich fragend an: Was hatte das mit dieser
Schule zu tun?
    »In dem Schuljahr, in dem sich Ina Speidler im Keller des Internats
erhängt hat, waren zwei neue Lehrer auf den Cäcilienberg gekommen.« Sie zeigte
auf die Moellers. »Franz und Rosemarie Moeller waren damals als Lehrer neu ins
Internat gekommen.«
    Gemurmel kam auf, Franz Moeller hob beide Hände, als wolle er etwas
sagen, aber Klara Schulze sprach weiter ins Mikrofon.
    »Im nächsten Schuljahr wurde also der Junge überfahren, und im
Schuljahr darauf, das ist jetzt etwa zwei Jahre her, kamen vier Schüler ums
Leben.« Sie legte erneut eine Pause ein. Es war jetzt totenstill geworden. »Kai
Wirsching – seine Mutter ist heute ebenfalls anwesend – stürzte nachts von
einem Felsen in der Nähe des Internats. Dann starb eine Achtklässlerin,
vergiftet mit Blausäure, die wohl aus dem Chemiefundus des Internats stammte.
Kurz darauf wurde im Apothekergarten der Fünftklässler Sami tot gefunden – das
hier sind seine Eltern Latifa und Mahmoud Brahem.« Sie zeigte auf das zweite
Paar neben sich. »Der Junge war aus einem Turmfenster gestürzt, die Umstände
sind bis heute ungeklärt. Und schließlich erhängte sich eine Neuntklässlerin im
Keller des Internats – nahe der Stelle, an der schon ihre Freundin zwei Jahre
zuvor tot aufgefunden wurde. Ihre Eltern wären vielleicht heute ebenfalls hier,
aber sie haben inzwischen Selbstmord begangen. Sie lagen tot am Grab ihrer
Tochter, auch hier hat die Polizei die Ermittlungen inzwischen eingestellt.«
    Keiner sprach ein Wort, die Blicke gingen zwischen Klara Schulze und
den Moellers hin und her.
    »Einer der Polizisten, der noch immer wegen der Todesfälle rund um
das Internat recherchierte, wäre heute vielleicht ebenfalls hier – aber er
stürzte vor Kurzem mit seinem Wagen von einer Autobahnbrücke bei Limburg an der
Lahn. Seine Kollegen gehen davon aus, dass er Selbstmord begangen hat.«
    Die Stille wirkte bedrückend, und Rektor Wehling gab sich einen Ruck
und ging die Treppe hinauf aufs Podium.
    »Selbstmord, Unfall«, schallte plötzlich die Stimme von Franz
Moeller über den Hof. »Das haben Sie selbst gesagt, Frau Schulze.«
    Er stand inzwischen oben vor dem Eingang zum Schulgebäude, und seine
kräftige Stimme kam ohne Mikrofon aus.
    »Aber Sie prangern uns hier reichlich unverhohlen als Mörder an.
Worin soll denn unsere Schuld liegen? Wir haben Kevin nicht überfahren, und wir
haben die Mädchen nicht im Internatskeller aufgehängt. Und wenn Kinder den
Druck einer Eliteschule nicht aushalten und sich deshalb das Leben nehmen, ist
das tragisch – aber andererseits sollten sich dann auch die jeweiligen Eltern
fragen, ob sie das Leistungsvermögen ihrer Kinder richtig eingeschätzt haben.«
    »Sie fragen, wo Ihre Schuld liegt?«, rief Ursel Weber, die sich
wieder ans Mikrofon gestellt hatte. »Das will ich Ihnen sagen: Sie haben in den
Klassen, die Sie unterrichten, eine Atmosphäre aus Druck und Neid geschürt, und
Sie haben …«
    »Druck müssen Kindern aushalten«, fiel Moeller ihr ins Wort, »unter
Druck werden sie geformt, veredelt – so, wie aus altem Holz erst Kohle und
später Diamant wird.«
    »… und Sie haben die Kinder angestachelt, ihre
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