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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
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aussah. Carol lächelte ihm aufmunternd zu. Sie fragte sich, ob André dies ebenfalls tun würde, ob er es überhaupt noch konnte.
    Nach einer Zeit, die ihr nur wie Minuten vorkam, sagte Morianna das verhängnisvolle Wort: »Empfange!«
    Carol zitterten die Knie so sehr, dass sie kaum aufrecht zu stehen vermochte. Dies entlockte André ein Knurren. Er wirkte ausgehungert, versessen auf Blut. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, wagte es nicht, ihn noch einmal anzublicken, und kniete sich nieder. Aus dem Augenwinkel sah sie Rene, noch immer gefesselt und geknebelt, ganz in der Nähe knien.
    Der Geruch, den André verströmte, erinnerte sie an herbstliche Spaziergänge im Wald, an feuchtes Tierfell, an neugeborene junge Hunde und die Geburt ihres Sohnes. Sie sah, wie seine Haut bebte, als sich die Muskeln darunter spannten, und war sich beinahe sicher, dass sie die Vibrationen spüren konnte, die sich durch den Boden verbreiteten und ihren Körper in Wellen erschütterten.
    Sein heißer Atem strich ihr übers Gesicht, dicht an ihrem Ohr, tief und rasselnd wie eine Flutwelle, die sie zu zermalmen drohte.
    Andrés Hand fuhr an seinen Hals.
    Sie sah die unmöglich langen, gefährlich gezackten Nägel. Sie waren gelb und knochenhart. Er war weiter abgemagert, nur noch Haut und Knochen, und stank nach dunklem Schweiß - dem wenigen Blut, das noch in ihm war. Bleiche blaue Venen wölbten sich unter dem erschreckend weißen Fleisch, von dem sich sein dunkles Haar scharf abhob. Es schien, als wollten die blauen Venen jeden Moment aufbrechen, und doch wirkten sie zugleich merkwürdig flach und leblos.
    Als er sich die Vene öffnete, wurde ihr schwindlig. Ein blasses Rinnsal trat aus, so wenig, dass sie sich darauf gefasst machte, alles so schnell wie möglich aufzunehmen, ehe es wieder versiegte.
    Carol saugte an seiner Kehle. In so großer Nähe zu ihm brachten sie die Laute, die er von sich gab, und die Gerüche, die er verströmte, vollkommen aus dem Konzept. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Er konnte nicht umhin, dies zu registrieren. Sie vernahm ein Grollen wie von einem Gewitter, vermochte jedoch nicht zu sagen, ob es sich nun tatsächlich um Donner handelte oder von André stammte. Schließlich kam kein Blut mehr, und sie ließ von der Wunde ab.
    Als Carol sich zurücklehnte, bemerkte sie, dass Rene auf den Knien vorwärts gekrochen war. Trotz des Knebels stöhnte sie; ihre Augen glänzten unnatürlich.
    »Zurück!«, hörte Carol Morianna sagen.
    Noch ehe Carol sich zu rühren vermochte, stürzte André sich auf sie. Sie fiel auf den Rücken, und die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Auf Händen und Knien war er über ihr, ein Wolf, bereit, seine Beute zu verschlingen. Sein Gesicht, das über dem ihren schwebte, jagte ihr eine solche Angst ein, dass sie noch nicht einmal schreien konnte. Er keuchte heftig, Speichel troff von seinen weit aufgerissenen Kiefern. Sein Haar war gesträubt, sein Blick irr. Er ist vollkommen ausgehungert, dachte sie, und jetzt gibt es nichts mehr, was zwischen ihm und meinem Blut steht.
    »André!«, erklang Moriannas Stimme. Das Gewicht von Jahrhunderten schwang darin mit. »Warte! Es ist bald Mitternacht!«
    »Tu ne te souviens pas d’elle?«, sagte Julien. »Rappelle-toi!«
    Entscheidende Sekunden verstrichen. Niemand rührte sich. Aus dem Augenwinkel bekam Carol mit, dass Michael zusah. André zögerte.
    Die Stille wurde vom Schlagen der Turmuhr zerrissen. Sie schlug drei viertel zwölf. Die Geräusche lenkten André ab. Er warf den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf. Eine wilde Kraft ging von ihm aus.
    Carol erstarrte und hielt den Atem an.
    »Wenn sie das ewige Leben nicht will, ich will es. Nimm mein Blut!« Irgendwie hatte Rene es geschafft, sich des Knebels zu entledigen. Nun mühte sie sich ab, auf die Beine zu kommen.
    Julien erhob sich, um sie aufzuhalten.
    Blitze zerrissen den Himmel.
    André schnappte Carol und warf sie sich über die Schulter. Gleichzeitig packte er Rene um die Hüfte. Noch bevor jemand etwas unternehmen konnte, durchbrach er das Flachglas und sprang in großen Sätzen, drei Stufen auf einmal nehmend, die Feuerleiter hinab.
    Er brach durch die Büsche und Bäume hinter dem Haus, raste durch Dunkelheit und leichten Schneefall den Hang des Mont Royal empor. Die dunkle Nacht wurde einzig von einem sterbenden Mond erhellt. Zedern und Pinien peitschten nach Carols nacktem Körper, zerkratzten
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