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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
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und Claude gelegt hatte, Julien, der eine schluchzende Rene in den Armen hielt.
    In der Ferne schlugen die Kirchenglocken Mitternacht. Durch den melodiösen Klang hindurch erscholl Moriannas Stimme: »Und nun muss André empfangen!«
    Es schneite heftiger, und Carol fror. Die Angst kehrte wieder, und sie fing an zu zittern. Trotzdem strich sie sich das Haar zurück, sodass es über ihre linke Schulter fiel. Sie wandte den Kopf und blickte André erneut in die Augen.
    Sofort fiel er über sie her. Trockene, eiskalte Lippen. Nadelspitze Zähne, die mit einem stechenden Schmerz blitzschnell in sie eindrangen. Obwohl sie am ganzen Leib bebte, spürte sie nur zu deutlich, wie er sich an sie presste. Er zitterte bei Weitem stärker als sie.
    Nachdem die rasiermesserscharfen Schneidezähne sich tief genug in ihren Hals gebohrt hatten, spürte sie, wie er sie langsam wieder herauszog. Seine Lippen bedeckten die schmerzenden Wunden und betäubten sie. Sie hörte ein Lecken, Saugen und Schlürfen und spürte, wie er all das, was er ihr gegeben hatte, und noch weit mehr wieder in sich aufsog. Ihr Herz begann ungleichmäßig zu schlagen. Der kalte Schweiß brach ihr aus. Sie fror.
    »Halt mich fest«, flüsterte sie.
    Er packte sie bei den Schultern und drehte sie so, dass sie ihn ansehen konnte, ohne dass seine Lippen von ihrem Hals abließen. Er saugte in kräftigen, steten Zügen, die immensen Druck auf ihre Haut und die Muskeln ausübten, und während er saugte, kehrte die Farbe in ihn zurück. Sein Körper wurde wieder warm, und sie drückte sich an ihn, weil ihr mittlerweile eiskalt war. Sie wurde immer schwächer, ihr Herz setzte hin und wieder aus. Das Atmen bereitete ihr Mühe, und sie nahm alles nur noch wie durch einen Schleier wahr. Sie stöhnte leise, eigentlich war es ein Schluchzen.
    Er drückte sie an sich, strich ihr übers Haar, nahm sie sanft in die  Arme und schlang die Beine um sie. »Ich habe solche Angst«, weinte  sie. Die Tränen gefroren ihr auf den Wangen. Er zog sie enger an sich.
    In dem Maß, in dem ihre Kräfte schwanden, fiel ihr das Atmen immer schwerer. Ihr Herz setzte mehrere Schläge lang aus. Es wurde dunkel um sie.
    Sie wusste nicht, wann er sie hochgehoben hatte, doch nun trug er sie zurück durch die Dunkelheit und die vom Schnee weißen Bäume den Berg hinab. Der Duft der Pinien, die Laute, die über seine Lippen kamen, die Wärme seines Körpers und die Kraft seiner Arme waren das Letzte, was Carol wahrnahm, ehe die Tür sich hinter ihr schloss
und sie ins Tal des Todes einging.

35
    Kein Licht. Kein Laut. Kein Geruch. Sie schwebte dahin und   ließ sich treiben.
    Übergang. Spuren von Geräuschen, Beinahe-Empfindungen. Federleichte Bewegungen in der Zeit. Da war jemand.
    Kein Gleichmaß. Sie spürte nichts. Nichts ergab einen Sinn. Doch da war es wieder.
    »Carol?«
    Instinktiv rührte sich etwas. Die Luft war so dünn. Quälend schwarzes Licht. Leere.
    »Willkommen!« Sie sah ein Gesicht. Rob. Sanft und freundlich, so wie er in den besten Momenten gewesen war. Neben ihm Phillip, ihr Freund. Und ihre Mutter. Es war so traurig. Sie lächelten. Ihre Mutter breitete die Arme aus, und sie schwebte auf sie zu.
    »Carol!«
    Sie wandte sich um. Energie durchflutete sie, ein Wirbelwind aus Licht, der sie in sich einzusaugen drohte.
    »Verlass uns nicht!«, sagte ihre Mutter. »Carol.« Rob streckte eine Hand nach ihr aus. Phillip winkte ihr zum Abschied noch einmal zu.
    »Folge meiner Stimme!« Die Worte hallten in endlosen Schwingungen nach, dehnten sich aus. Carol schwebte, glitt um mehrere Biegungen auf die Stimme zu, und mit einem Mal bemerkte sie ein gleißend helles Licht.
    »Mach die Augen auf!«
    Die Worte hatten keinerlei Bedeutung für sie, doch plötzlich sah sie  André. Er lächelte. Er hatte einen gesunden Teint. Ihr brennender  Blick traf seine grauen Augen, die warm auf ihr ruhten. Sein Gesicht  näherte sich ihr, seine Lippen streiften die ihren. Sie spürte nichts.
    Er sagte: »Atme!«, und zunächst verstand sie nicht, was das heißen sollte, bis sie hörte, wie die Luft durch ihre Nase strömte, und spürte, wie sie sich in ihren Lungen ausbreitete.
    Da gab es etwas, was sie wissen wollte, aber sie hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, es in Erfahrung zu bringen.
    »Du bist wieder da«, sagte er. »Bei uns. Bei mir!«, und da wurde ihr bewusst, dass auch sie einmal gewusst hatte, wie man Sätze
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