Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
Vom Netzwerk:
und rief irgendwelchen Freunden etwas zu. Auf dem Bürgersteig herrschte reger Betrieb. Menschen mit braunen Papiertüten, aus denen Baguettes oder Gemüse ragten, drängten sich zwischen Männern und  Frauen, die schwere Aktentaschen mit sich schleppten oder Plastik boxen für ihre Lunchpakete trugen, und zum Ausgehen zurechtge machten Paaren. Carol fand alles interessant, wenn auch nur, weil alles  rings um sie herum neu war. Doch sie hatte bereits mitbekommen,  wie andere Touristen sich darüber beklagten, dass hier nichts los sei,  Bordeaux sei geradezu gleichbedeutend mit Langeweile. Und sie war  schon gelangweilt angekommen. Wie es aussah, würde sie wohl nicht  sehr lange bleiben.
    »Kommen Sie aus den USA? Man hört es an Ihrem Akzent.«
    Sie wandte sich zu ihrem ungebetenen Gesellschafter um. Seine Miene wirkte gleichgültig, aber er sah sie unverwandt an.
    »Ja, ich bin Amerikanerin.«
    »Mittelwesten, Ostküste oder beides?«
    »In letzter Zeit Philadelphia.«
    »Aber Sie sind nicht dort geboren?«
    Der Kellner brachte ein großes Glas Rotwein und stellte es vor ihrem Tischgenossen ab. Dieser gab dem Mann einen Zehn-Franc-Schein, nahm das Glas, schnüffelte am Inhalt und setzte es wieder ab.
    »Ein interessantes Land«, fuhr er fort, während er das Wechselgeld einsteckte. »Ich kenne es recht gut und seine Sprache ebenfalls. Natürlich kann es nicht auf eine Geschichte wie Frankreich zurückblicken und hat auch nicht eine solche Tradition, aber was euch Amerikanern an Tiefe abgeht, macht ihr durch eure Innovationskraft wieder wett.«
    »Schon möglich«, sagte Carol, indem sie sich abwandte.
    »Ich heiße André. Und Sie?«
    Erneut drehte sie sich zu ihm um. Er hielt sein Glas geneigt und ließ den Inhalt hin und her schwappen. Der Wein kletterte an der Wand des Glases empor und überzog sie mit einem leichten Film, ehe er wieder hinabglitt. In seinem Gesicht spiegelte sich eine erlesene Mischung aus gelangweiltem Gleichmut, gepaart mit der Neugier des Müßiggängers und einem Hauch Herablassung.
    »Hören Sie, ich bin nicht in der Stimmung, Konversation zu betreiben. Ich möchte einfach meine Ruhe haben.«
    »Wie Sie wünschen!« Er war beleidigt, aber das war sein Problem.
    Carol machte Anstalten, sich abermals abzuwenden, doch er kam ihr zuvor. »Es gibt nicht viele Frauen, die um diese Jahreszeit allein nach Bordeaux reisen, zumal noch wenn sie so hübsch sind. Ich liebe es, sie mir anzusehen - ihre schlanken Hüften, die großen Brüste und griffigen Hintern, das kastanienbraune Haar, Augen so blau wie der Himmel an einem Frühlingstag ...«
    Mit einem angewiderten Seufzen langte Carol nach ihrer Handtasche, kehrte ihm den Rücken und machte, dass sie wegkam.
    Es war zwar erst April, aber schon warm genug, dass man nachts mit einer leichten Jacke auskam. Carol beschloss, vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang am Fluss entlang zu machen. Sie war noch nicht müde, außerdem hatte sie über einiges nachzudenken.
    Das Wasser der Garonne war trüb. Das kam daher, hatte sie bei einer Stadtführung erfahren, dass sich Schnee und Schlamm den Winter über ansammelten und sich nun von Nordwesten her die Berge hinab zum Atlantik wälzten. Sie schlenderte die breite gepflasterte Straße am linken Ufer entlang. Tagsüber herrschte hier reger Verkehr, die Gespräche der Fußgänger mischten sich mit dem Lärm von Fahrzeugen aller Art. Doch in der Nacht waren die Hafenanlagen still und verlassen. Sie lauschte dem beruhigenden Geräusch der Taue, die an den Pollern scheuerten. Der Neumond stand als dünne Sichel am dunklen Himmel. Es war ruhig hier, friedlich, und niemand störte sie in ihren Gedanken.
    Die ganze Geschichte erschien ihr nun reichlich melodramatisch. Im Rückblick wurde ihr klar, dass sie von Anfang an hätte erkennen müssen, dass Rob sie nach Strich und Faden betrog. All die verräterischen Anzeichen waren einem doch geradezu ins Gesicht gesprungen. Jeder hatte es kommen sehen, nur sie nicht. Wie hieß es so schön? Die Frau erfährt es immer als Letzte! Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie verbittert sie eigentlich war.
    Sie hörte ein Geräusch und drehte sich um. Der Weg lag leer vor ihr.
    Großartig!, dachte sie. So geht es einem also, wenn man es gewohnt ist, alles gemeinsam mit seinem Partner zu machen - man fürchtet sich vor dem Alleinsein. Aber sie wusste, dass es sich anders verhielt. Mehr noch, sie wollte ja ihre Ruhe haben. Selbst nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher