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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
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bildet. Auch sie hatte einmal sprechen können.
    André streichelte ihr Gesicht, ihr Haar. Seine Züge waren sanft, von seinem Körper ging ein Strahlen aus. Seine Augen glänzten wie graue Opale, während sie über ihr Gesicht glitten. Er hatte sie noch nie so angesehen, und sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
    »Bald wirst du deinen Körper spüren. Und dann kannst du auch wieder sprechen. Atme einfach weiter.«
    Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, der sie wie eine Flüssigkeit durchströmte, und nahm allmählich wieder Geräusche wahr. Sie bewegte ihre Hand, und ihre Finger begannen zu kribbeln. »Ich ... lebe«, stieß sie erstaunt hervor. Sie spürte, dass in ihrem Innern etwas war, eine unbekannte Präsenz.
    »Ja«, lachte er. »Du lebst! Und bald bist du auch wieder ganz da. Dann wird dir übel sein und du wirst dich übergeben müssen. Dein Körper muss die ganzen Gifte loswerden. Aber ich bin bei dir. Hab keine Angst!«
    In dem Maß, in dem das Gefühl in Carol zurückkehrte, nahm die Präsenz in ihrem Innern Gestalt an. Sie nahm sich selbst als auf einem Bett liegend wahr, das, wie sie nun wusste, André gehörte. Ihr Mund fühlte sich merkwürdig an. Als sie mit der Zunge umhertastete, stellte sie fest, dass in ihrem Oberkiefer zwei Zähne länger waren als die übrigen.
    »Michael«, sagte sie.
    »Er ist oben. Sie sind alle oben. Wir gehen später auch hoch.«
    Die dunkle Präsenz in ihrem Innern erstickte das Licht, das Carol Augenblicke zuvor noch erfüllt hatte. Erst nahm das Wesen die Gestalt eines Mannes an, dann diejenige einer Frau und schwankte zwischen ihnen hin und her. Es hatte Robs Gesicht, das Gesicht ihrer  Mutter, dann sah es aus wie Phillip und schließlich wie Rene. Doch all  seine Erscheinungsformen hatten eines gemeinsam: Sie weinten.
    »Ist Rene ... tot?«
    »Julien hat ihr ihre Erinnerungen genommen. Sie wird wieder in Ordnung kommen.«
    Carol war speiübel. Ihr Kopf stand kurz vor dem Zerplatzen.
    »Du wirst dich übergeben. Es wird von überallher aus dir herauskommen. Aber danach fühlst du dich besser. Ich liebe dich, Carol!« Er klang erleichtert, so als nähmen diese Worte ihm eine Last von der Seele.
    Sie blickte ihm in die Augen. Sie glänzten und sprühten vor Lebenslust, zwei graue Ozeane voller Plankton unter einem glitzernden Sternenhimmel. Ihr drehte sich der Magen um. Das Wesen in ihr schrie auf.
    »Gleich wird dir sehr übel werden«, sagte er und küsste sie auf Stirn, Nase und Mund. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, aber ein heftiger Schmerz schoss ihr durch den Kopf, und ihr ganzer Körper zog sich zusammen. Sie schrie.
    »Wenn erst einmal alles draußen ist, hören auch die Schmerzen auf. Dann gebe ich dir etwas Blut, und du wirst dich wieder besser fühlen. Ich will mit dir Liebe machen. Jetzt. Immer.«
    Das Wesen in ihrem Innern gewann immer deutlicher Kontur, bis es schließlich so scharf umrissen war, dass sie wegblicken musste. Carols Arme und Beine verkrampften sich, Krämpfe fuhren ihr durch die Brust und tief in den Magen. Sie hatte Angst, und ihr Atem ging stoßweise. Sie und das Wesen in ihr fragten wie mit einer Stimme: »Muss ich jetzt sterben?«
    André half ihr ins Badezimmer. Er hob sie in die Wanne und hielt sie fest, während ihr Körper alles wieder von sich gab, was sie einst zum Leben gebraucht hatte, was nun aber nicht mehr vonnöten war. Vor lauter Schmerz geriet sie ins Taumeln. Das Wesen duckte sich, gefangen zwischen unerträglichen Qualen und schierer Verzweiflung. »Er liebt dich nicht«, hallte eine Stimme in ihrem Kopf wider. Sie weinten beide.
    »Bist du jetzt enttäuscht?«, schluchzte sie. Ein neuerlicher Krampf ließ sie zusammenzucken.
    »Enttäuscht? Worüber denn?«
    Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er anders aussah. Sein Haar war nicht mehr nur an den Schläfen grau meliert, sondern von silbernen Strähnen durchzogen, und aus seinem Gesicht war die Wut gewichen, die bisher seine Züge bestimmt hatte.
    »Dass ich es bin.«
    Er wirkte verwirrt.
    »Und nicht Anne-Marie. Oder Sylvie.«
    Ein letzter Anfall schüttelte sie. Danach war sie viel zu schwach, sich zu rühren, selbst weinen konnte sie nicht; sie vermochte lediglich zu zittern vor der Angst einflößenden Macht, die durch sie hindurchgegangen war.
    Er säuberte sie, trug ihren reglosen Körper zurück ins Bett und legte sich neben sie.
    Die Schmerzen waren vergangen, aber da war noch immer
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