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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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nicht das Ende. Du kannst es ändern. Du musst nicht diesen Weg gehen. Nimm einfach einen anderen. Du musst nicht alleine gehen. Ich werde da sein. Das weißt du doch? Ich bin immer da.” Sie weint. Die Tränen rinnen über ihre Wangen, sammeln sich am Kinn und tropfen auf sein Gesicht.

Der Patient
    Der Patient stöhnte, stützte sich an der Tischkante ab, an der er sich den Kopf angeschlagen hatte. Einige Albe hatten sich in seine Beine verbissen, einer krallte sich an seinem Arm fest. Er nahm sie vorsichtig ab und setzte sie auf den Boden. Dann stand er auf und ging langsam zwischen ihnen auf und ab.
    “So”, sagte er. “Ich weiß, ihr seid nicht gerade erfreut darüber, in den Einmachgläsern gesteckt zu haben, aber, hey”, er breitete die Arme aus, “es tut mir leid. Okay? Ich muss wohl nicht meinen geistigen Zustand erwähnen?”
    Die Albe starrten ihn aus rotglühenden Augen an. Sie hockten auf dem Boden, dem Sessel, manche flogen um die Lampe und stießen sich wie desorientierte Falter die Köpfe an.
    “Ja, schon gut, schon gut. Ihr könntet mich natürlich jetzt aussaugen, danach auf meiner Leiche herumhüpfen oder mich abnagen. Aber”, er streckte den Finger in die Luft, “damit würdet ihr doch auch nichts ändern. Ich denke, und das meine vollkommen ernst, uns allen wäre geholfen, wenn ich euch einfach zu Herrn Blum bringe. Was haltet ihr davon?” Er zupfte einen Alb von seinem Bauch und wischte das Blut mit dem Pullover ab.
    “Lass das bitte, Kerlchen”, sagte er streng. “Ich denke, wir haben das nun geklärt. Herr Blum ist eine beschissene Nervensäge, aber er hat euch studiert. Zumindest denkt er das. Und er wird eine Lösung finden. Oder er wird … na ja, auf jeden Fall, gehen wir mal hin.” Dann schnappte er sich kurzentschlossen den größten Alb, mit den rotesten Augen, und nahm ihn mit durch die Küche. Als er am Herd vorbeiging, überlegte Frau Schmitt, ob sie nicht vielleicht erst noch ein paar Pfannkuchen backen sollte, aber der Patient verwarf den Gedanken. Erst die Arbeit.
    “Wir müssen in Herrn Blums Büro”, sagte er, “und das ist der kürzeste Weg.”
    Er kroch durch das Belüftungsrohr und stellte erfreut fest, dass die anderen Albe ihm folgten.

Du und ich
    Nicht, sagt sie. Mach das nicht. Bleib bei mir. Ich schmecke die Tränen, die ihre Wangen hinabrinnen. Sie hält mich fest im Arm.
    Der Patient hatte recht, sage ich. Ich bin irre. Der ganze Scheiß ist irre. Wahrscheinlich bist du nicht mal echt. Ich stoße sie von mir und fühle mich allein.
    Der kleine Junge sieht mich ängstlich an und ich sehe ihn an. Er hält die Hand des Albs fest umklammert, als würde er sonst untergehen. Und genauso fühle ich mich. Als würde ich ertrinken.
    Johanna kniet sich vor mich hin. Ich bin echt, sagt sie, so echt wie man nur sein kann. Siehst du? Sie kneift mich in den Arm und lächelt dabei. Ziemlich echt, was?
    Ziemlich echt, ja. Aber was soll ich denn jetzt machen? Ich kann doch nicht - Ich weiß nicht mal, was ich nicht kann.
    Na ja, sagt sie. Du kannst zurückgehen. In den Keller. Du kannst dich dorthin setzen und das war’s. Für immer. Oder du fängst einfach neu an. Wir alle könnten neu anfangen. Gestern ist gestern, heute ist heute.
    Und morgen?, frage ich. Was wird morgen sein?
    Sie lacht und sie sieht wunderschön aus. Alles, sagt sie. Morgen kann alles sein.
    Es rumpelt und der Patient landet auf dem Bett unter der Luke. Verdammt noch eins, sagt er und windet sich aus der Decke. In der Hand hält er einen zappelnden Alb.
    Er sieht mich an, dann sieht er den kleinen Jungen an. Und wir sehen ihn an. Uns.
    Der Patient kommt auf mich zu und streift meinen Ärmel nach oben. Über die Wunde, die ich mir mit seinem Messer zugefügt habe. Ich weiß es wieder, sagt er, und krempelt seinen Ärmel auf. Da ist eine Narbe. Auf dem Unterarm. Meine Narbe, seine, unsere.
    Ja, sage ich. Scheiße, ja. Und jetzt? Ist das hier die Zukunft? Meine Zukunft?
    Scheiße, nein, sagt er. Hey, wir sind irre, das ist dir doch jetzt klar. Du kannst sein, was du willst, wo du willst, wann du willst.
    Und du?, frage ich. Kommst du mit?
    Ach, sagt er. Ich bin da, wo ich hingehöre.
    Potzblitz! Herr Blum kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Wo haben Sie dieses prachtvolle Exemplar her? Er streckt die Hand nach dem Alb aus, dann erstarrt er in der Bewegung und sein Kiefer klappt nach unten.
    Albe flattern durch die Luke herein. Zehn, zwanzig, dreißig Albe.
    Jepp, sagt der Patient. Also ich.
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