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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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schließlich war er irre, aber der Junge hatte seinen geregelten Tagesablauf durcheinandergebracht. Das war nicht gut. Der Patient mochte es, wenn alles seinen gewohnten Gang ging. Aufstehen, einen oder zwei von Frau Schmitts Pfannkuchen essen, dann an die Arbeit. Das war ein guter, runder Tagesbeginn. Seinetwegen auch oval, jedenfalls nicht durcheinander.
    Mittlerweile kreischten Bremsen in seinem Kopf. Eisen auf Eisen. Tuff, tuff, tuff, die Eisenbahn … Der Patient ließ die Perücke und die Weste fallen und hielt sich die Ohren zu. Dann schüttelte er den Kopf. Nein. Neinneinnein. Er nahm eines der Einmachgläser vom Regal, öffnete den Verschluss und nahm den Alb heraus. Sein Körper war aufgedunsen und seine Haut war ganz bleich, aber er lebte, atmete, bewegte sich träge. Die Flügel hingen schlaff und nutzlos an seinem Rücken herab. Der Patient schüttelte ihn einmal kräftig und warf ihn in die Luft. Mit einem dumpfen Plumps landete er auf dem Teppichboden und rührte sich nicht mehr.
    Nacheinander öffnete der Patient die Einweckgläser, nahm die Albe heraus, schüttelte das Wurstwasser von ihren Flügeln und warf sie in die Luft. Keiner von ihnen breitete die Flügel aus und flog, alle klatschten auf den Boden. Verdammt. Vielleicht hätte er doch weiterhin flüssigen Aether verwenden sollen.
    Er ging in die Hocke und piekste einen der Albe in den Bauch. Ehe er den Finger zurückziehen konnte, hatte der Alb ihn umklammert und schlug seine spitzen Zähne hinein. Es tat nicht sehr weh und er beobachtete fasziniert, wie der Alb das Blut aus seiner Fingerkuppe saugte. Mit jedem Schluck schien er kräftiger zu werden. Ha! Wenn er das nur früher gewusst hätte, hätte er sich die Aether- und Wurstwasser-Experimente schenken können. Er hielt einem anderen Alb - einem besonders ausgemergelt aussehenden - einen Finger der anderen Hand hin und beobachtete wie auch dieser seine Zähne hineinschlug und trank. Wie ein Baby an der Mutterbrust.
    “Trinkt nur, meine Kleinen”, sagte der Patient und ungekannte Mutterfreuden durchströmten ihn. Nach und nach säugte er alle Albe und sah verzückt zu, wie sie bereits wieder über den Boden krochen und ihre Augen das altbekannte rote Funkeln annahmen. “Kommt”, sagte er, “kommt zu Mama.”
    Und sie kamen. Sie krochen an seinen Beinen herauf, krallten sich in seiner Kleidung fest und machten es sich auf dem Patienten bequem, bevor sie ihre Zähne wieder in sein Fleisch schlugen. Über und über mit Alben bedeckt, saß er auf dem Teppichboden und grinste glücklich. Selbst als ihm schwarz vor Augen wurde, er zur Seite kippte und sich den Kopf an der Tischkante anschlug, tat er das mit einem Lächeln auf den Lippen.

Dr. Stein und der Patient
    Dr. Stein klappt die Akte zu. Sie sieht den Patienten lange an und nickt. “Gut”, sagt sie. “Dann suchen wir einen anderen Ansatz.”
    Professor Ruben legt ihr die Hand auf die Schulter. “Doktor … Pritunia. Ich habe Ihnen zwölf Monate gegeben, aus denen bereits zwei Jahre geworden sind. Es wird keinen anderen Ansatz geben. Ich werde den Patienten auf die Innere verlegen lassen und die medikamentöse Behandlung wieder aufnehmen.” Er hebt die Hand, als Pritunia ansetzt etwas zu sagen. “Bitte. Es ist vorbei.” Er geht hinaus und schließt die Tür.
    Alle Türen.
    Doktor Stein reibt sich die Schläfen. Der Patient rüttelt an den Manschetten, die ihn ans Bett fixieren. Ein Rückschlag, weiter nichts. Wie kann ein kleiner Rückschlag alles zunichtemachen, was sie in den zwei Jahren erarbeitet hatten?
    “Sie hätten mir nichts angetan”, sagt sie. “Nicht nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben, nicht wahr?”
    Der Patient sieht sie an, in seinen Augen schimmert Erkennen, aus seinem Mundwinkel hängt ein Speichelfaden herab und tropft in Zeitlupe auf das weiße Kissen.
    Sie steht vor dem Fenster und ihre Silhouette hebt sich vor dem grellen Licht ab. Sie trägt Weiß. Weiß. Und sie sieht wunderschön aus. Das rote Haar hat sie zu einem Knoten hochgesteckt. Weiß und rot. Er mag es, wenn sie die Haare offen trägt, und wenn sie ihr in weichen Wellen über die Schultern fallen. Ob sie … Nein, das würde sie nicht.
    Sie spricht mit ihm, aber sie ist zu weit weg und die Wellen sind so laut und übertönen ihre Worte. Und die Albe poltern durch die Gänge. Die Sicherheitstüren werden sie nicht länger fernhalten. Es sind viele. Viel mehr als zu Anfang. Sie werden es beenden. Endlich. Endlich kein
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