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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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Kind. Ein dummes, dummes Kind. Wann nimmst du endlich diese verdammte Augenbinde ab?
    Ich bin kein Kind. Ich bin schon lange kein Kind mehr. Ich bin … Sein Lachen schneidet meine Worte ab, aber es ist nicht sein Lachen, es ist Bozos Lachen, das aus meinem Mund kommt. Ich lache, bis ich keine Luft mehr bekomme. Rotz läuft aus meiner Nase. Ich kann nicht aufhören zu lachen.
    Er huscht zwischen meinen Füßen durch und ich trete nach ihm, verfehle ihn, trete noch einmal zu und er zerplatzt unter den viel zu großen Schuhen.
    Ich bin kein Kind. Und ich brauche keine Augenbinde, um nichts zu sehen. Ich hebe das Messer, schiebe es unter den Stoff und schneide mir den Schleier von den Augen. Und dann kann ich alles sehen. Aber das ist nicht wahr. Nichts ist wahr. Nur das Messer in meiner Hand. Das fühlt sich gut an. Echt.
    Es wäre schön, nicht immer auf dem harten Boden zu sitzen. Ich schiebe den Ohrensessel in die Mitte des Kellers. In die Mitte des Zimmers, neben den kleinen Tisch.
    Guten Morgen! Was möchten Sie heute zum Frühstück?
    Keine Eier. Ich will nie wieder Eier essen. Pfannkuchen, sage ich. Pfannkuchen wären wunderbar.
    Frau Schmitt zieht die Vorhänge auf und lächelt mich breit an. Ist das nicht ein wundervoller Morgen?
    Der Himmel ist blau. Ein Flugzeug hat einen Kondensstreifen hinterlassen. In dem alten Kirschbaum putzt eine Amsel ihr Gefieder. Ja, sage ich. Es ist Morgen. Es ist schon lange Morgen. Gestern war bereits Morgen.
    Bozo kichert. Er sitzt auf dem Besucherstuhl in der Zimmerecke. Seine rote Perücke ist ein Blutfleck auf der weißen Tapete. Weiß und rot, rot und weiß, weißrotweiß. Erinnerst du dich?, flüstert er.
    Frau Schmitt schüttelt das Bett auf. Sie summt eine Melodie. Ich kenne das Lied, ich habe es schon oft gehört. Manchmal singt sie, dann kann ich den Text verstehen. Bozo mag sie nicht. Fette Putze, nennt er sie, wenn sie nicht hinhört. Ich nenne sie niemals so. Ich mag ihre Pfannkuchen.
    Bozo fuchtelt mit den Händen. Mir wird schlecht. Tu die weg, sage ich. Tu die verdammt noch mal weg. Aber er kichert nur und kratzt sich unter der Perücke. Ich will das nicht sehen, ich wünsche mir die Augenbinde zurück.
    Du bist so irre wie ein Schwein im Tangotakt. Er gackert, springt vom Stuhl und tanzt um Frau Schmitt herum. Sie ignoriert ihn wie sie das immer tut. Sie lächelt mich an. Sie sieht ein bisschen aus wie ihre Pfannkuchen, aber das sage ich nicht. Sie hat mich auch noch niemals irre genannt. Das würde sie nicht tun.
    So, mein Lieber, sagt sie. Dann werde ich mich mal um die Pfannkuchen kümmern. Sie legt ihre Hand auf meinen Arm. Ganz kurz nur. Vielleicht hat sie es nicht einmal bemerkt. Dann geht sie aus dem Zimmer und der Pfleger schließt die Tür. Ab. Er schließt sie ab.
    Meine Hände zittern. Sie tasten nach dem Messer, das unter dem Kopfkissen liegt. Ich lege es immer unter das Kopfkissen, wenn ich schlafen gehe. Frau Schmitt nimmt es mir nicht weg, sie tut einfach so, als existierte es nicht. Aber es ist. Natürlich ist es. Gib mir ein Holzstück sage ich.
    Herr Blum sieht mich über den Rand seiner Brillen hinweg an. Er kramt eine besonders schöne Pille aus dem Kästchen, das er immer bei sich trägt, und steckt sie in meinen Mund. Schlucken Sie die, sagt er. Es gibt nichts besseres, als einen Trip am Morgen. Vor dem Frühstück.
    Bozo macht einen Handstand an der Wand. Verdammt, sagt er. Du bist so verdammt langweilig. Wir könnten so viel Spaß zusammen haben. Wir könnten die fette Putze … Er zieht seinen Zeigefinger quer über seinen Hals.
    Meine Hände zittern so sehr. Ich klammere mich an dem Messer fest. Gleich wird sie die Pfannkuchen bringen. Wir könnten … Wir. Ich. Nein. Ich schlucke die Pille. Ich brauche … gib mir das Scheißholz!
    Und dann?, fragt er. Was machst du dann?
    Ich muss weg hier. Weg. Weg von hier.
    Gestern?, fragt er. Schon wieder gestern? Bah!
    Übermorgen, sage ich. Übermorgen ist alles gut.

Dr. Stein
    Dr. Stein sitzt auf dem Besucherstuhl, das Gesicht in die Hände gelegt. Sie ist müde. Der Patient starrt apathisch an die Zimmerdecke. Seine Hände zucken und er schluckt reflexartig, als sie ihm den Becher mit Wasser an die Lippen hält. Dann schleudert sie den Becher an die Wand. Das ist nicht das Ende! Verdammt! Das. Ist. Nicht. Das. Ende.
    “Erin”, sagt sie. Sie packt den Kragen seines Schlafanzugs und schüttelt ihn. “Ich weiß, dass du da drin bist und ich weiß, dass du mich hören kannst. Erin. Das ist
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