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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Spanisch, waren wir für andere wenigstens keine Deutsche, keine Nazis.
    »Der Vater«, sagte Ruth, »wollte mit den Deutschen nichts zu schaffen haben. Er ging in keinen deutschen Verein, er ging auch nicht in den Deutschen Club.«
    Im Deutschen Club sammelten sich die reichen Deutschen, die reichen Nazis, dachten sie. Gerade im Deutschen Club empfing man die Nazis mit offenen Armen. Wer weiß, wem man dort über den Weg gelaufen wäre, welchem geflohenen Verbrecher man dort nach dem Krieg die Hand geschüttelt hätte.
    Sie schauten aus dem Fenster. Im Hof standen Palmen. Man konnte sich dort unten auf eine Bank setzen. Das hatten sie noch nie gemacht. Was sollen wir dort unten, dachten sie. Sie gehörten nicht zu den alten Frauen, die ihre Tage in Parks auf Bänken verbrachten. Sie fütterten keine Tauben.
    »Er mochte die Engländer, sie waren ihm sympathisch, aber mit den Deutschen wollte er nichts zu tun haben. Dabei war sein Englisch furchtbar«, sagte Vika.
    Er ist nicht wie wir auf eine englische Schule gegangen, dachte sie. Er musste sich die Sprache selbst beibringen.
    »Auch sein Spanisch war furchtbar.«
    »Sein Englisch war schlimmer«, sagte Vika. »Seine Aussprache war miserabel.«
    Aber er bemühte sich, dachte sie, anders als die Mutter.
    »Er redete drauflos, als würde er perfekt sprechen. Als sei er der geborene Engländer.«
    Er kannte keine Hemmungen, dachte Ruth. Er besaß kein Sprachgefühl. Es ging ihm nur darum, dass er verstanden wurde.
    Sie lächelte nachsichtig.
    Der Vater, dachte sie, ist zwar in jungen Jahren nach Südamerika ausgewandert, aber aus der Provinz, in der er aufwuchs, ist er nicht herausgekommen. Wir gingen nach New York. Uns kann keiner etwas vormachen.
    Sie schaute Vika in die Augen. Auf Vika hatte sie sich in all den Jahren, die sie zusammenlebten, verlassen können.
    Wenn Vika stirbt, dachte sie, möchte auch ich sterben.
    Sie wurde traurig.
    Werde jetzt nicht sentimental, ermahnte sie sich. Wir sitzen am Frühstückstisch, wie jeden Morgen.
    »Vater schenkte mir zum zehnten Geburtstag die Deutschen Sagen«, erinnerte sich Vika.
    »Mir schenkte er zum Abitur eine Schiller-Ausgabe«, sagte Ruth.
    Daran konnte sie sich gut erinnern. So schlecht stand es noch nicht mit ihrem Gedächtnis.
    Eine in dunkelrotes Leder gebundene Schiller-Ausgabe, dachte sie.
    »Dabei hast du Schiller nie gemocht«, sagte Vika.
    Ich habe ihn geliebt, dachte sie.
    »Nur die Maria Stuart habe ich gemocht«, erwiderte Ruth.
    »Ja, die Maria Stuart«, bestätigte Vika. »Wir sahen sie im Theater. Damals konnten die Schauspieler noch Schiller sprechen. Aber der Wallenstein ...«
    »Nur die Maria Stuart …«, fiel Ruth der Schwester ins Wort.
    An den Wallenstein konnte sie sich nicht erinnern, aber an die Maria Stuart. Sie erinnerte sich nicht an die Handlung des Dramas, aber wenn sie Maria Stuart sagte, war da eine Resonanz, eine Schwingung in ihr. Hörte sie den Namen Wallenstein, bewegte sich in ihr nichts, es blieb in ihr leer.
    Der Wallenstein, dachte Vika, ist ein Männerdrama, die Maria Stuart ist ein Frauendrama. Es gibt nicht viele interessante Frauendramen. Hausfrauendramen schon, wie die Nora oder die Hedda Gabler, aber keine interessanten Frauendramen.
    »Als ich jung war, lernte ich Schillers Balladen auswendig«, sagte Vika.
    Ich könnte die Balladen noch aufsagen, dachte sie. Ich habe sie in meinem Kopf parat. Das Auswendiglernen fiel mir nie schwer.
    »Du kannst sie noch aufsagen«, sagte Ruth und lächelte ihre Schwester an.
    Sie war immer die klügere von uns beiden, dachte sie, auch in der Schule war sie besser als ich, und sie hat studiert, gegen den Willen des Vaters, ich studierte nicht. Ich erlernte keinen Beruf. Ich lernte erst etwas, als ich anfing zu arbeiten.
    »Und ob«, sagte Vika stolz.
    Man darf, dachte sie, mit ruhigem Gewissen stolz darauf sein, dass man etwas kann, etwas gelernt hat. Man darf nur nicht eitel sein. Eitelkeit ist aller Laster Anfang. Eitle Menschen sind unerträglich. Es gibt keinen Grund, eitel zu sein. Wer eitel ist, der betrügt sich selbst. Man muss sich selbst mit klarem Blick sehen. Man muss sich selbst in die Augen sehen.
    »Vater sagte immer, dass die Nazis uns die Klassiker nicht nehmen könnten«, sagte Ruth.
    Wie hätten sie das anstellen sollen, dachte sie. Die Klassiker standen bei uns zuhause im Schrank.
    »Schon als Kinder«, sagte Vika, »sollten wir die Klassiker lesen.«
    Zuerst Gedichte und Erzählungen, dann Dramen und Romane,
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