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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Darum flehte sie seit Wochen. Gott aber ließ sich Zeit.
    Ruth war zwölf Jahre alt, als Vika krank wurde. Der Tod hatte die Hand auf die Schwester gelegt, als sei sie ihm versprochen.
    »Ich werde dich nicht loslassen, wer immer dich mir wegnehmen will«, flüsterte Ruth und beugte sich zu Vika hinab.
    Sie hatte den Tod noch nie gesehen und wusste nicht, woran sie ihn erkennen konnte, und in ihrer Not hatte sie einen Stuhl zwischen den drohenden Tod und die Schwester gestellt, in der Hoffnung, dass ihre Anwesenheit ihn einschüchtern und verjagen würde. Vika, dachte sie, würde sich nicht wehren können, wenn der Tod sich ihr näherte, um sie fortzutragen. Schließlich schob sie auch ihr Bett in das Zimmer der Kranken.
    Die Eltern erlaubten ihr nicht, die Schule zu schwänzen. Widerwillig überließ sie während der Unterrichtsstunden ihrer Mutter die Pflege der Schwester. Mit der willensschwachen Mutter, davon ging Ruth aus, hätte der Tod, wenn er käme, ein leichtes Spiel.
    Sie hatte die Eltern gedrängt, einen Arzt zu rufen. Der Arzt machte ein ernstes Gesicht, während die Mutter stumm neben ihm stand und mit dem Kopf wackelte, als wollte sie ihn bitten, ihr zu glauben, dass sie nicht geahnt habe, wie krank ihr Kind sei. Der Vater kehrte wie gewohnt erst spät vom Büro nach Hause zurück. Er sagte nur, Vikas Leben liege nun in Gottes Hand, und verschwand in seinem Arbeitszimmer.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Ruth, »du wirst wieder gesund, ich werde dafür sorgen, ich werde dich nicht aus den Augen lassen, ich halte dich fest, keiner wird dich mir wegnehmen.«
    Sie strich Vika über den Kopf und legte die Hand sanft auf ihre Schulter. Wochen harrte sie neben der Kranken aus.
    Vika überlebte. Sie wusste, dass Ruth sie gerettet hatte. Das vergaß sie ihr nie.

  3
    Sie saßen auf dem Sofa und lauschten der Musik, die aus dem Radio kam. Die Augen hielten sie geschlossen, sie stellten sich vor, sie wären in einem Konzertsaal. Ihre Schuhe lagen auf dem Boden, die Füße ruhten nebeneinander auf einem Schemel.
    Sie wohnten in einem weitläufigen Appartement im fünften Stock eines Hochhauses, das mitten in der Stadt lag. Früher waren sie häufig ausgegangen, in Konzerte, in die Oper, ins Theater. Seitdem Ruth auf der Straße gestürzt war, setzten sie sich, wenn sie Musik hören wollten, zuhause auf ein Sofa. Ihre Schultern berührten sich.
    »Die Ravioli heute Mittag waren ausgezeichnet«, sagte Ruth.
    »Sie sind immer ausgezeichnet«, bestätigte Vika. »Sie haben die besten Ravioli im ganzen Viertel.«
    Die beiden alten Frauen blinzelten in das matte Licht der Deckenlampe.
    »Mozart?«
    »Nein, Haydn«, erwiderte Vika.
    »Ach, Haydn«, sagte Ruth.
    Erneut schlossen sie die Augen.
    »Du hörst nicht zu, wenn sie sagen, was gespielt wird.«
    »Ich verlasse mich auf dich.«
    Ruth lachte leise auf.
    Wir zwei, dachten sie. Wir zwei alten Tanten.
    Sie schwiegen, atmeten ruhig. Nur die Musik war zu hören.
    »Die Eltern sind nie in ein Konzert oder ins Theater gegangen«, begann Ruth erneut. »So wie andere Leute. So wie wir.«
    Unvorstellbar, Mutter in einem langen Abendkleid, dachte sie. Unvorstellbar, Mutter in einem Badeanzug. Auch an den heißesten Tagen ging sie nicht schwimmen. Nicht einmal draußen auf dem Land, wo wir einen Swimmingpool hatten. Sie musste sich nie abkühlen. Sie war von selbst kalt genug.
    »Unvorstellbar«, sagte Vika, »dass der Vater mit der Mutter abends ausgegangen wäre. Die Mutter bekam man nicht aus dem Haus heraus.«
    »Als hätte es nicht genug Gelegenheiten gegeben, in ein Konzert oder ins Theater zu gehen.«
    Gerade hier, dachte Ruth. Das Teatro Colón. Die weltweit beste Akustik.
    Sie wackelte mit den Füßen.
    »Die Eltern blieben daheim, sie verbarrikadierten sich in ihrem Haus. Es war groß genug, um sich nicht ständig über den Weg zu laufen. Sie ging früh zu Bett.«
    Warum wackelt sie mit den Füßen?, dachte Vika.
    »Als wären die Eltern festgewachsen und könnten sich nicht mehr bewegen. Mein Fuß ist eingeschlafen.«
    »Dann stell den Fuß auf den Boden. Das Blut muss wieder hineinlaufen.«
    Sie sollte sich mehr bewegen, dachte Vika, nur wenn man sich bewegt, bleibt man auf Trab. Wer den ganzen Tag herumsitzt, wird schnell alt.
    »Es wird schon besser.«
    Ruth ließ ihr Bein auf und ab wippen.
    Keine Krampfadern, dachte sie. Auch bei Vika, keine Krampfadern. Das Blut fließt zurück. Mutter hatte Krampfadern, ihr Blut floss nicht, es war zu dick.
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