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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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bis zum Bett hinüber. Sie musste aufstehen, wollte sie Vika berühren, wollte sie sehen, was mit der Schwester los war. Sie schlug die Decke zur Seite, ließ die Beine aus dem Bett auf den Boden gleiten, saß kurze Zeit wie von fremder Hand gehalten da und schaute kindlich und ängstlich forschend ihre Schwester an, suchte mit ungläubigem erstauntem Blick nach einer Bewegung, auch der kleinsten, ein Zucken der Wimpern, ein Blähen der Nasenflügel, neigte darauf den Kopf nach vorne und zur Seite und hielt Vika ein Ohr hin, damit die Schwester sich bemerkbar machen konnte. Aber immer noch war kein Laut zu vernehmen. Also stand sie auf und ging zu ihr hin, sie musste nur einen einzigen Schritt machen, und legte die weiche zitternde Hand auf Vikas Schulter, drückte sie leicht und rüttelte sie dann. Aber die Schwester reagierte nicht, blieb ganz für sich, in eine unzugängliche Ferne gerückt.
    In Vikas Gesicht standen grell die Zeichen des Todes. Fahl war es, wächsern und entseelt. Das war die Botschaft der Stille gewesen. Ruth sackte unter ihr zusammen. Die nackte bedingungslose Angst sprang wie ein Ungetüm aus dem Bett der Schwester, warf sich über Ruth und fraß sich in sie hinein. Sie schrie stumm auf. Sie musste sich nicht vergewissern, was geschehen war, die Hand nicht an Vikas Herz legen, um zu fühlen, ob es noch schlüge, das Ohr nicht an Vikas Mund halten, um zu hören, ob sie nicht doch atme, sie wusste, dass ihr die Schwester genommen, gestohlen worden war. Der Tod war über Nacht gekommen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte, er hatte Vika geholt, während sie beide schliefen. Die Angst bohrte ihr einen Stachel ins Herz und stocherte und wühlte darin herum. Sie hatte den Tod nicht daran hindern können, Vika mitzunehmen, obwohl sie im selben Zimmer, obwohl sie direkt neben ihr lag, für jeden Hilferuf der Schwester empfänglich. Sie hatte geschlafen, zu tief, um den Tod zu hören und Vika zu helfen. Die Angst zerriss ihr Herz, und jetzt schrie sie klagend auf. Das Zimmer schwamm mit den Tränen davon, die in ihre Augen schossen. Ihr wurde schwindelig, und ihr blutendes Herz raste, zuckte und pumpte, bis es keine Kraft mehr hatte und sie sich in den hintersten Winkel dessen verzog, was von ihr übrig geblieben war, ein glühender Schmerz, der sie aufsog.
    Irgendwann aber saßen Tauben auf dem hohen Mauerring, den die Angst um Ruth errichtet hatte, und verkündeten ihren Refrain »Don’t break the rule, don’t break the rule«, und holten mit ihrem Gurren die alte Frau aus der Erstarrung und Betäubung, in die sie gefallen war, zurück in das Schlafzimmer, an die Seite der Toten. Und da kam Ruth der Gedanke, dass Vika noch nicht weit weg sein konnte. Die Schwester lag ja im Bett vor ihr, sie war da, wenn auch bewegungslos, atemlos, aber immerhin sichtbar, und sie ließ sich von ihr berühren. Lange schaute sie in Vikas Gesicht, um herauszufinden, was zu tun war, bis sie wusste, wie es mit ihnen beiden weitergehen musste, es lag mit einem Mal auf der Hand. Sie ging zum Kleiderschrank, mit der weltabgeschiedenen Sicherheit einer Schlafwandlerin, öffnete ihn und fand, in einem der oberen Fächer, die Schlaftabletten, die sie beide gehortet hatten, für den, wie sie dachten, unwahrscheinlichen Fall, dass ihnen eines Tages kein anderer Ausweg bleiben würde. Es mochte gegenüber dem Leben, das ihr so lange treu gewesen war, ungerecht sein, sich umzubringen. Aber sie beendete das Leben ja nicht, weil sie keine Zuversicht mehr hatte und nicht weiterwusste, sondern in der Hoffnung, die Hand der Schwester wieder zu fassen und sie festzuhalten, um mit Vika zusammenzubleiben. In diesem Sinne war der Wunsch, sich umzubringen, nur die Kehrseite des Wunsches, das gemeinsame Leben zu verlängern. Sie mochte nicht ohne Vika sein. Der Tod sollte keine Macht über sie haben. Sie fühlte keine Schuld, als sie die Tabletten schluckte. In ihren Augen war nicht Unrecht, was sie tat.
    Darauf legte sie sich wieder in ihr Bett, neben ihre Schwester, wie sie es jeden Abend gemacht hatte, und wartete auf den Schlaf. Sie betete, sie rief Vika. Aber es kam anders, als sie gehofft hatten. Sie holte die Schwester nicht ein.
    Die Putzfrau schloss die Wohnungstür auf, legte ihren Mantel ab und ging in das Wohnzimmer, um die beiden alten Damen, die sie am Frühstückstisch vermutete, zu begrüßen. Aber die beiden saßen dort nicht. Sie rief die Schwestern beim Namen, und da sie keine Antwort erhielt, lief sie zum Schlafzimmer,
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