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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Wirtschaftsgeschichte«, begann Ruth erneut.
    »Wer?«
    »Unser Anwalt.«
    »Er ist hochgebildet«, bestätigte Vika.
    Sie lernen heute nichts mehr in der Schule, dachte sie. Wir mussten viel lernen.
    »Von Ökonomie versteht er alles«, sagte Ruth.
    Import und Export, dachte sie. Uns geht es gut, solange es dem Dollar gut geht, solange die Politiker das Land nicht ganz zugrunde richten. Wir kommen hier nicht mehr weg, dafür sind wir zu alt, dafür bin ich zu alt. Vika könnte weggehen, sie kann noch laufen, sie ist gesund, aber sie würde mich nie alleine lassen. Ein Glück, dass wir eine amerikanische Pension erhalten.
    Sie schlossen die Augen und sanken tiefer in das Sofa hinein.
    »Die Emma hatte eine Tochter«, sagte Ruth.
    »Ja«, sagte Vika.
    An was sie sich heute erinnert, dachte sie. Wie kommt sie auf die Emma? Wir sprachen doch sonst nie davon.
    »Die Tochter konnte ihr auch nicht helfen?«
    »Nein, das konnte sie nicht.«
    »Die Frauen denken immer, Kinder würden sie glücklich machen«, sagte Ruth. »Aber das stimmt nicht. Das sieht man ja auch an der Emma.«
    Wir haben keine Kinder, und wir sind glücklich, dachten sie. Wir wollten nie Kinder haben. Wie hätten wir Kinder in die Welt setzen können ohne Männer. Die Kinder müssten jetzt auf uns Alte aufpassen, sie müssten sich um uns kümmern.
    Fast sah es so aus, als würden die beiden Schwestern auf dem Sofa einnicken. Aber sie rappelten sich noch einmal auf.
    »Wie man sich nur für Wirtschaftsgeschichte interessieren kann«, sagte Ruth.
    »Er liest die Bücher im Bett vor dem Einschlafen. Das hat er mir erzählt.«
    »Im Bett könnte ich nicht lesen.«
    »Im Bett soll man schlafen«, sagte Vika.
    Alles zu seiner Zeit, alles an seinem Ort, dachten sie.
    »Wir haben einen guten, einen gesunden Schlaf.«
    »Wir haben ja auch nichts verbrochen«, sagte Vika.
    Sie lachte.
    »Wir schlafen sofort ein, wenn wir uns ins Bett legen«, sagte Ruth.
    »Weil wir spät ins Bett gehen.«
    »Meistens nach Mitternacht.«
    »Wir zwei Nachteulen.«
    Kaum hatten sie sich in ihre Betten gelegt, um zu schlafen, breitete sich in ihnen eine tiefe Ruhe aus. Sie beteten nicht, aber sie überantworteten sich einer höheren Gewalt, die über allem waltete und ein Auge auf sie werfen würde, solange sie schliefen.

21
    Sie wachte auf. Das Zimmer hell. Es war Tag. Ein neuer Tag. Licht fiel durch die halbgeschlossenen Rollläden. Nichts schmerzte sie. Das war die erste Erkenntnis, die sie an diesem Morgen über sich gewann. Sie war da, ohne neue körperliche Mängel oder Beschädigungen. Die Augen tasteten die Dinge ab. Das Bekannte, Vertraute tat ihr gut, es lockte sie hinaus. Sie machte mit den Sinnen erste orientierende Schritte, kehrte aus dem Schlaf in die Welt zurück, rückte sich selbst an einen Ort, den sie kannte, nahm wieder Kontakt auf mit sich, füllte das verschlafene Bewusstsein mit Eindrücken. Noch verwendete sie keine Worte. Ihr reichten Bilder und Empfindungen. Sie lauschte in sich hinein und aus sich heraus. Sie blieb auf dem Rücken liegen, bewegte kaum den Kopf, sie schien zu schweben, von Empfindungen und Eindrücken getragen. Bis sie die Stille an ihrer Seite bemerkte, die unangenehm war, kalt und schmerzend. Vergeblich lauschte sie auf den Atem der Schwester, der wie von einer unsichtbaren schalldichten Wand geschluckt wurde, die zwischen ihren Betten errichtet worden war. Sie sprach Vikas Namen aus wie ein Zauberwort, mit dem sie die geliebte Schwester zu sich rufen könnte. Aber die Stille bewegte sich nicht vom Fleck. Benommen von einer ersten Furcht drehte sie den Kopf zur Seite und sah hinüber zu dem Bett ihrer Schwester. Sie sah Vika auf dem Rücken liegend, den Kopf gerade auf dem Kissen wie in einem rechten Winkel zur Decke hin ausgerichtet, sie sah die scharf geschnittene und leicht gebogene Nase. Die Augen der Schwester waren geschlossen, nur der Mund stand offen. Sie rief Vika erneut bei ihrem Namen, leise, zart und fragend, als wollte sie die Schwester nicht wecken, als wollte sie ihr nicht wehtun. Aber Vika rührte sich nicht, sie schien tief zu schlafen, tiefer als jemals zuvor. So in sich gesunken und wie aus der Welt gehoben hatte Vika als Kind im Bett gelegen, in den schlimmsten Stunden ihrer schweren Krankheit, an der sie damals fast gestorben wäre. Daran musste Ruth jetzt denken. Die Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart überlappten sich, und Ruth erschrak. Sie streckte die Hand nach der Schwester aus, aber die Hand reichte nicht
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