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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Schwarzes Blut.
    »Ins Kino gingen sie nicht«, sagte Vika, »das Kino war ihnen zu modern.«
    Humphrey Bogart, dachte sie, Lauren Bacall, Marlon Brando, Audrey Hepburn, Kirk Douglas, Marilyn Monroe. Sie sind alle tot. Wir haben sie gesehen. Wir leben noch.
    »Ah non.«
    Ruth dehnte die Vokale in die Länge, als käme sie aus dem Staunen nicht heraus. Sie zog mit diesem Ausruf einen feinen Strich zwischen das Erlaubte und Unerlaubte, das Mögliche und Unmögliche, das Glaubhafte und Unglaubhafte.
    »Auch sie müssen doch einmal jung gewesen sein«, sagte Vika.
    Sie mochte Haydn nicht besonders. Später werden sie Mozart spielen, dachte sie. Ein Klavierkonzert. Danach die Nachrichten. Kein Tag, an dem nichts passiert auf der Welt.
    »Die Mutter ist nie jung gewesen«, sagte Ruth.
    Sie legte den Fuß zurück auf den Schemel.
    Alte Füße, dachte sie. Alles an mir ist alt geworden. Aber noch halte ich mich aufrecht.
    »Sie müssen sich doch nach etwas gesehnt haben«, sagte Vika und schaute ihre Schwester von der Seite an.
    »Mutter war innerlich verdorrt, wie ein vertrockneter Baum«, sagte Ruth.
    Ein Baum aus Stein, dachte sie. Ein Baum, der nie Blätter trug. Keinen Schmuck, kein helles Kleid. Nur Grau und Schwarz. Ihr Leben lang in Trauer.
    »Wie ein vertrockneter Baum«, wiederholte Vika.
    Sie lachte leise.
    Ein Baum, auf den sich kein Vogel gesetzt hätte, dachte sie. Ein Wüstenbaum. Ich hätte die Blumen noch einmal gießen sollen. Jetzt ist es zu spät.
    »Vater hatte seine Arbeit, da blühte er auf«, sagte sie.
    »Mutter hatte uns«, erwiderte Ruth, »aber das machte sie nicht glücklich, sie war immer unzufrieden.«
    Ruth mochte keine unzufriedenen Menschen. Wer unzufrieden ist, dachte sie, muss etwas dagegen unternehmen. Wenn man unbequem sitzt, muss man sich bequemer hinsetzen.
    »Immer nur die Pflicht, immer nur das Geschäft und die Arbeit, mehr kannte er nicht«, sagte Vika und sah auf die Uhr an der Wand. Es war halb zwölf.
    »Nur die Kinder, nur der Haushalt, mehr kannte sie nicht«, sagte Ruth.
    Was kannte sie schon, dachte sie. Ihre Kinder kannte sie nicht. Sie wusste nichts von uns. Wir waren für sie Fremde. Fremde Töchter. Unartig. Fahnenflüchtig.
    »Als hätte es nichts anderes gegeben«, sagte Vika.
    »Für sie nicht. Sie interessierte sich für nichts auf der Welt.«
    Nur für sich, dachte Ruth. Nur für ihr Leid. Sie steigerte sich in ihr Leiden hinein. Sie nahm sich nicht zusammen, sie ließ sich gehen. Sie saß zuhause und wurde schwerer und schwerfälliger.
    Sie schwiegen.
    Wir waren immer zusammen, dachten sie. Sie konnten uns nicht trennen, nichts konnte uns auseinanderbringen. Nach den Nachrichten gehen wir ins Bett. Sonst schlafen wir auf dem Sofa ein und bekommen einen steifen Rücken.
    »Zum Glück sind wir anders«, sagte Vika.
    »Das kannst du laut sagen.«
    »Niemals hätten wir leben können wie sie.«
    »Ah non.«
    Sie waren müde, aber es war viel zu gemütlich auf dem Sofa, um aufzustehen und ins Bett zu gehen. Die Abende auf dem Sofa waren für sie die schönsten Stunden des Tages, die innigsten. Die Welt versank in Dunkelheit, als würde sie nicht existieren. Nur sie blieben übrig, allein mit ihren Erinnerungen.
    »Das wäre kein Leben für uns gewesen, immer zuhause und nichts von der Welt sehen«, sagte Vika.
    Nur noch den Mozart, dachte sie. Und die Nachrichten. Es geht mit dem Land bergab. Sie treiben das Land in den Ruin.
    »Wir haben uns das nicht bieten lassen, wir sind von zuhause geflohen wie aus einem Gefängnis«, sagte Ruth.
    Wir rannten nicht weg, dachte sie. Ich hatte einen Plan. Wir waren keine Kinder, sondern erwachsene Frauen. Nachdem wir sie verließen, begann unser Leben. Das alles liegt so weit zurück.
    Ihre Glieder wurden schwer.
    »Wir hätten uns für ein solches Leben, wie die Eltern es führten, nicht hergegeben«, sagte Vika. »Dafür waren wir uns zu schade. Wir haben uns gewehrt.«
    Wir stürzten den König, dachte sie. Es war eine Revolution. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie dachten, es ginge einfach so weiter. Aber wir beugten uns nicht vor ihnen, wir kündigten ihnen den Gehorsam. Wenn wir nachgegeben hätten, wären wir niemals von zuhause weggekommen. Ein Schritt ergab den anderen. Der Stein geriet ins Rollen. Es geht mit dem Land bergab.
    Sie rutschte tiefer in die Wärme der Schwester hinein.
    Gegen halb ein Uhr morgens schalteten sie das Radio aus und gingen zu Bett.
    In den Betten hatten schon die Eltern geschlafen. Kühle Luft
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