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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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strömte durch das Fenster in das Zimmer. Im hellgrauen Widerschein des nächtlichen Himmels waren die Gegenstände um sie herum nur schwach zu erkennen, ein Schrank, ein Tisch, auf dem eine heilige Maria aus Porzellan stand, ein Spiegel, eine Kommode. Sie wünschten einander eine gute Nacht. Nur ihr Atem war noch zu hören.
    Sie lebt, dachte Vika. Mein Herz, ihr Herz. Heilige Mutter Gottes. Morgen muss ich den Blumen mehr Wasser geben. Wir müssen für jeden Tag dankbar sein, den uns der Herrgott schenkt.
    Sie lebt, dachte Ruth. Mein Fuß, das Blut, so schwer. Aber sie ist da. Ich könnte nicht weitermachen ohne sie. Ich habe nur sie. Sie wird nicht vor mir gehen.
    Sie hatten Vertrauen in die Nacht. Auf dem Rücken liegend schliefen sie ein.

  4
    Kaum waren sie wach, begannen sie miteinander zu reden. Sie redeten den ganzen Tag. Zwischen neun und zehn Uhr saßen sie am runden Wohnzimmertisch beim Frühstück. Den Tisch, die Stühle und die Vitrine, in der das alte und nicht mehr benutzte Tee- und Kaffeegeschirr verwahrt wurde, hatten sie aus dem Elternhaus mitgenommen.
    »Sie lernen nichts mehr«, sagte Vika.
    »Ah non.«
    Ruth schüttelte den Kopf. Vika und sie hatten in der Schule viel lernen müssen.
    Man kommt im Leben nicht weit, wenn man nichts weiß, dachte sie.
    »Sie können keine Gedichte mehr auswendig aufsagen«, ergänzte Vika. »Keinen Goethe, keinen Schiller, keinen Mörike.«
    »Keinen Mörike …«, sagte Ruth leise.
    Sie hatte alle Gedichte vergessen, die sie einmal auswendig gewusst hatte. Ihr Gedächtnis war schlecht, und es wurde immer schlechter, aber das war nicht schlimm, solange sich Vika erinnerte. Ständig sprachen sie über ihr vergangenes Leben. Sie waren Wühlmäuse, unablässig wälzten sie die Vergangenheit wie Erde um, unterhöhlten die Gegenwart, und auf diese Weise verloren die Tage die Schwere der Eintönigkeit und wurden leichter. Andere ihres Alters, die alleine waren oder nicht miteinander zu reden wussten, waren den zähen Stunden der Langeweile ausgeliefert.
    »Zehn, zwanzig Gedichte, das ist doch nicht zu viel verlangt«, insistierte Vika.
    Was haben sie bloß in ihren Köpfen, dachte sie. Was ist da draußen los. Die Politiker sind korrupt, die Wirtschaft stagniert. Aber kaum einer geht auf die Straße, um zu protestieren. Es bleibt ruhig. Keine Demonstrationen, keine Polizei, es fallen keine Schüsse. Diese Zeiten sind vorbei.
    »Du kannst es. Du kannst noch Gedichte auswendig aufsagen.«
    Vika hat ein gutes Gedächtnis, dachte Ruth. Sie vergisst nichts. Was sie gelernt hat, das behält sie.
    Die weiße Tischdecke war an manchen Stellen zerschlissen. Auch bei den Eltern hatte eine weiße Decke auf dem Esstisch gelegen. Sie fuhr mit der Hand darüber.
    Ein Esstisch muss eine weiße Decke haben, dachte sie. Man erkennt ein gutes Restaurant schon daran, ob es weiße Tischdecken hat. Wenn wir ausgingen, dann nur in gute Restaurants.
    »Die jungen Leute sitzen den ganzen Tag vor dem Computer«, sagte Vika.
    Sie aß langsam, in kleinen Häppchen. Ruth saß ihr gegenüber. Sie hatten ihre angestammten Plätze. Nie setzten sie sich auf andere Plätze, nie nebeneinander. Für sie war es am besten, wenn sie einander gegenübersaßen.
    Sie wirkt müde, dachte Vika. Sie müsste sich mehr bewegen, sie müsste an die frische Luft gehen, aber sie verlässt die Wohnung nicht. Sie hat Angst, auf die Straße zu gehen. Sie hat Angst, wieder zu stolpern. Ich konnte sie nicht halten, sie ist zu schwer, ich bin zu schwach. Ein Glück, dass sie sich keinen Knochen brach. Ein verstauchter Fuß, Schürfungen, mehr war es nicht. Man muss achtgeben, wohin man tritt, wenn man alt ist.
    Sie selbst war noch gut auf den Beinen. Sie lief langsam, aber sicher, sie sah jede Unebenheit auf dem Bürgersteig. Der Verkehr störte sie nicht, er machte sie nicht nervös. Noch vor zwei Jahren war sie Auto gefahren. Sie war vorsichtig, ging nur bei Fußgängerampeln über die Straße.
    »Vor dem Computer, wo sonst«, sagte Ruth. »Die jungen Leute sind ganz besessen vom Computer.«
    Die Tischdecke trug das Monogramm der Familie. Die Mutter hatte es gestickt, in alle Servietten und in alle Tischdecken. Die Servietten steckten in silbernen Ringen und lagen bei den Mahlzeiten neben den Tellern, sauber, frisch gebügelt. Alles hatte seinen Platz, nirgends fand sich ein Staubkorn, ein Krümel. Keine Unordnung und kein Überfluss.
    »Wir besitzen keinen Computer«, sagte Vika. »Das hätte uns noch gefehlt, dass wir
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