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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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dachte sie. Die Gedichte Eichendorffs, die Erzählungen der Droste.
    Es war überflüssig, dass der Vater Vika ermahnte, die Klassiker zu lesen. Sie wollte sie lesen. Kaum hatte sie begonnen, die Klassiker zu lesen, konnte sie nicht mehr damit aufhören. Sie las alle Bücher, die der Vater ihr gab. Tagsüber holte sie sich heimlich noch andere Bücher aus dem Schrank und stellte sie am Abend rechtzeitig wieder zurück.
    »Wir mussten ihm jeden Samstag erzählen, was wir die Woche über gelesen hatten«, sagte Ruth. »Er hat uns abgefragt wie ein Lehrer seine Schüler. Er holte zuhause den Deutschunterricht nach, den wir in der englischen Schule nicht bekamen. Auf die deutschen Klassiker ließ er nichts kommen. Sie waren ihm heilig.«
    »Er hasste die Nazis«, warf Vika ein.
    Hitler und seine Bande, sagte er immer, dachte sie.
    »Er war ein guter Katholik«, sagte Ruth.
    Auch Katholiken waren Nazis, dachte sie. Weder ihr Glaube noch die Kirche haben sie davon abhalten können, Hitler hinterherzulaufen.
    »Er war ein besserer Katholik als der Papst«, sagte Vika.
    Pius der Zwölfte, dachte sie.
    Sie lachte kurz auf.
    »Der Papst …«
    Ruth führte den Satz nicht zu Ende, sondern winkte nur mit der Hand ab.
    Wir brauchten keinen Papst, dachte sie.
    Sie schwiegen, und ihr Schweigen legte sich wie eine Decke über die deutsche Vergangenheit. Über Hitler mochten sie heute am Frühstückstisch nicht reden.
    »Die Deutschen Sagen gefielen mir nicht«, nahm Vika den Faden wieder auf.
    Dennoch hatte sie die Nibelungen gelesen. Sie machte keine halben Sachen. Was sie anfing, brachte sie zu Ende.
    »Siegfried«, sagte Ruth verächtlich.
    Wie konnte ein Mann nur Siegfried heißen, dachte sie.
    »Krimhild«, ergänzte Vika höhnisch.
    Wie konnte eine Frau nur Krimhild heißen, dachte sie. Oder Brunhilde.
    »Ah non.«
    Nachdem die Eltern gestorben waren, packten die Töchter die meisten Bücher der väterlichen Bibliothek in Kisten und brachten sie in ein katholisches Altersheim, damit die Alten in ihren letzten Tagen noch etwas zu lesen hatten. Der Vater hatte sich die deutschen Klassiker in das deckenhohe Bücherregal seines Arbeitszimmers gestellt, so wie andere Väter Familienfotos in ein Album kleben. Jeden Abend zog er einen der Bände hervor und las sich selbst laut ein Gedicht vor. Im Stehen, mit pathetischer Stimme. Wenn er aufblickte, sah er auf die gerahmte Kopie von Dürers »Ritter, Tod und Teufel«. In dem Ritter erkannte er sich selbst, einen Deutschen, der in die Fremde zog und weder Tod noch Teufel fürchtete. Er besaß Bildbände über große Künstler, wie Grünewald, Rembrandt, Tizian, über deutsche Städte, Kirchen, Burgen und Schlösser, die er den Töchtern zeigte. Dazu setzte er sich in einen Sessel, die Kinder standen ihm zur Seite. Er blätterte in dem Buch, das er ausgewählt hatte, wies auf die Bilder und sagte:
    »Die Burg Liebenstein.
    Die Burg Lauenstein.
    Das Heidelberger Schloss.«
    Oder:
    »Das Kloster Maulbronn.
    Das Kloster Andechs.
    Das Kloster Ettal.«
    Und in dem Stil ging es weiter. Während er den Namen aussprach, klopfte er mit dem Zeigefinger mehrmals auf die entsprechende Abbildung. Die Mädchen nickten, dass sie verstanden hätten, und wiederholten den Namen. Er zeigte ihnen in den Büchern, was sie, wie er glaubte, niemals in der Wirklichkeit sehen würden. Dass sie eines Tages nach Deutschland zurückkehren würden, war für ihn ausgeschlossen.
    Die Eltern waren mit den beiden Kindern Ende der zwanziger Jahre nach Südamerika ausgewandert. Der Vater und die Mutter hatten bis dahin nichts von der großen Welt gesehen. Und nun sollten sie den Atlantik überqueren. Wenn dem Vater vor dieser Fahrt unheimlich zumute wurde, zog er seinen Schulatlas hervor und schaute sich das Land an, zu dem sie aufbrechen wollten, und das Meer, das sie überqueren mussten. Die Karte ließ die Welt zusammenschrumpfen, und er beruhigte sich und gewann die Zuversicht zurück, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Der Schulatlas lag jetzt im Schreibtisch seiner Töchter.
    »Ich gehe nachher zur Bank«, sagte Vika. »Ich muss Geld holen. Wir haben kein Geld mehr im Haus.«
    Sie brauchte Geld für das tägliche Essen und für die Putzfrau, die zwei Mal in der Woche kam und nicht nur saubermachte, sondern auch die Wäsche bügelte und Einkäufe erledigte.
    Sie trugen das Frühstücksgeschirr vom Wohnzimmer in die Küche. Nie ließen sie nach einer Mahlzeit das benutzte Geschirr auf dem Tisch stehen, sie
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