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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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auf. Die Dinge überleben uns. Wir gehen davon, sie bleiben. Vika kommt gleich zurück. Ich kann mich darauf verlassen. Sie ist immer bald zurückgekommen.
    Sie begann im Wohnzimmer hin und her zu laufen.
    Vika sagt, dass ich mich bewegen muss, dachte sie. Der linke Fuß schmerzt, wenn ich auftrete.
    Sie blieb mitten im Zimmer stehen.
    Was ist mit meinem Fuß los, dachte sie. Ich kann nicht mehr auf die Straße gehen. Ich komme hier mein Lebtag nicht mehr raus. Ich stürzte, sie konnte mich nicht halten. Ich bin für sie zu schwer. Sie ist klein und schmächtig. Ich gehe nicht mehr von hier weg, ich muss das Appartement nicht mehr verlassen, sie macht alles, was nötig ist, sie kümmert sich um alles. Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich verloren. Sie kann noch gut laufen, sie hört gut, sie hat ein gutes Gedächtnis. Ich sitze in unserem Appartement wie ein alter schwerfälliger Vogel in seinem Käfig. Was sollte ich draußen auch machen. Die Hitze und die vielen Menschen. Der Verkehr. Sie muss aufpassen, wenn sie über die Straße geht. Sie wird aufpassen. Sie ist vernünftig, sie war immer vernünftig, auch als Kind. Blass und zart war sie gewesen. Tugendhaft, sparsam, fleißig. Bloß keine Fehler machen. Achtgeben auf das, was man tut, wohin man tritt.
    Sie nahm ihren Spaziergang durch das Wohnzimmer wieder auf. Sie ging leicht nach vorne gebeugt, die Arme hingen ihr schwer an den Seiten herab.
    Rief da nicht jemand ihren Namen? Sie lauschte.
    »Vika?«, fragte sie in die Stille hinein.
    Sie blieb stehen, wusste nicht weiter. Der Boden unter ihr schwankte. Ich muss mich setzen, dachte sie und sah sich hilflos um.

  5
    Sie ließen sich weder in dem, was sie taten, noch in dem, was sie dachten, von anderen beirren. Nicht, dass sie stur waren, sie hielten sich nur für umsichtig und klug genug, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie bereuten nichts.
    »Hat er sich erschossen oder vergiftet?«, fragte Ruth.
    Sie saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und hatten die Füße auf den niedrigen Tisch gelegt, der vor ihnen stand. Sie waren müde, aber sie mochten sich nicht ins Bett legen. Dafür war es zu spät.
    »Wer?«
    »Hitler.«
    »Der hat sich erschossen.«
    Für einen Tee ist es noch zu früh, dachte Vika.
    »Ich bin immer davon ausgegangen, dass er sich vergiftet hätte«, sagte Ruth.
    Etwas Süßes essen, dachte sie. Ein Stück Kuchen.
    »Der nicht. Eva Braun hat sich vergiftet.«
    »Ein dummes Weib.«
    »Selbst schuld.«
    In einer Stunde würden sie in der Küche eine Tasse Tee trinken und ein Stück Kuchen essen, nicht früher und nicht später. Sie waren gestern zu lange aufgeblieben. Halb zwei war es gewesen, als sie ins Bett gingen. Nach den Nachrichten um Mitternacht waren sie auf dem Sofa eingenickt.
    Auch der Hitler ist schon lange tot, dachte Vika. Sie rutschen alle weg. Irgendwohin. Ins Nichts. Sie sterben alle, die einen früher, die anderen später, was immer sie auf der Welt angerichtet haben.
    »Ein Segen, dass der Vater aus Deutschland wegging«, sagte Ruth.
    »Wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn wir dageblieben wären.«
    »Der Vater spürte rechtzeitig, was auf uns zukam.«
    »Er hatte den Willen, wegzugehen«, sagte Vika. »Ohne Willen geschieht nichts. Nur mit Wünschen, nur mit Hoffnungen kommt man nicht weit.«
    Alles ist eine Frage des Willens, dachte sie. Und der Klugheit.
    »Die Mutter«, sagte Ruth, »wäre in Deutschland geblieben, auch wenn sie gespürt hätte, dass eine Katastrophe auf uns zukam. Sie war phlegmatisch. Sie rührte sich nicht vom Fleck.«
    Ein Glück für uns, dachte Vika, dass wir nach dem Vater gerieten. Wir erbten seinen starken Willen. Seine Durchsetzungskraft. Aber er war ein Egoist. Er dachte nur an sich. Wir sind keine Egoisten. Wir kümmerten uns um die Eltern.
    »Ein Glück, dass wir auf die englische Schule kamen«, sagte Ruth.
    »Wir sprachen perfekt Englisch«, sagte Vika.
    Ohne Akzent, dachte sie. Zuerst sprachen wir wie Engländer, dann wie Amerikaner. Keiner kam auf den Gedanken, dass wir Deutsche waren. Deutsche waren wir nur, wenn wir unter uns blieben. Waren wir draußen mit anderen zusammen, waren wir erst Engländer, später Amerikaner. Wir passten uns an, und es fiel uns nicht schwer, wir waren es von klein auf gewohnt.
    Ruth rückte sich auf dem Sofa zurecht und legte den Kopf in den Nacken. Sie hielt die Augen geschlossen.
    Wenn man nichts von dem wahrnimmt, was um einen herum geschieht, dachte sie, ist es so, als würde man in der
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