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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Erinnerung leben. Als wäre man nur noch Erinnerung. In sich verkapselt. Ein geschlossener Innenraum in einem schwerfälligen Gehäuse. Ein Eremit, der sich von der Welt zurückgezogen hat und sich seinen Gedanken überlässt. Das Kissen im Nacken tut gut.
    »Hätten wir nicht Englisch gesprochen«, sagte Vika, »wären wir nicht nach New York gekommen.«
    »Unvorstellbar.«
    Unvorstellbar, dachte Ruth, was aus uns geworden wäre, wenn wir nicht weggegangen, sondern zuhause geblieben wären.
    »Keine von unseren Freundinnen schaffte es nach New York«, sagte Vika. »Obwohl sie Englisch sprachen.«
    Es ist immer das Gleiche, dachten sie. Die Töchter wiederholen die Fehler der Mütter. Es ist ein endloser Reigen.
    »Unsere Freundinnen taten so, als seien sie glücklich, als Ehefrau, als Mutter. Aber sie konnten nicht glücklich sein.«
    Wir gaben uns damit nicht zufrieden, dachten sie. Wir wollten mehr vom Leben. Wir ließen uns nicht unterkriegen. Von den Eltern wegzugehen war unser Recht. Es ging um unser Glück.
    »Immer an der Seite des Ehemannes«, sagte Vika. »Wenn sie hübsch waren, bekamen sie einen reichen Mann ab.«
    Wenn sie alt wurden, suchten die Ehemänner sich junge Geliebte, dachten sie.
    »Immer im Kreis der Kinder«, sagte Ruth.
    Ein Leben für die Kinder, dachten sie. Sich aufopfern für die Familie. Und der Dank? Wir brauchten keinen Mann und keine Kinder. Bloß keine Kinder. Wir wussten schon früh, dass wir keine Kinder haben wollten. Darüber mussten wir kein Wort verlieren. Unvorstellbar, dass wir Kinder in die Welt setzen, dass wir eine eigene Familie gründen würden. Wir hatten mit unseren Eltern genug zu tun. Wir blieben ihre Töchter, wir brauchten selbst keine Töchter.
    »Jetzt sind sie alt, all die hübschen jungen Frauen«, sagte Ruth.
    Auch wir sind alt, dachten sie. Aber wir haben etwas erlebt und erreicht. Wir hätten die Eltern nicht pflegen können, wenn wir Kinder gehabt hätten. Die eigenen Kinder, die eigene Familie hätte uns von den Eltern getrennt.
    »Wenn sie noch am Leben sind«, sagte Vika. »Nicht alle werden so alt wie wir.«
    »Oder sie sind allein.«
    Wir sind nicht allein, wir haben uns, dachten sie. Das wussten wir unser Leben lang, dass wir uns haben und nie allein sein würden, dass wir uns auf uns verlassen konnten. Wir schlossen einen Pakt, ohne darüber ein Wort zu verlieren. Dass wir zusammenblieben, ergab sich von selbst, als hätten wir uns nicht anders entscheiden können. Für uns war das selbstverständlich. Eine Naturgegebenheit. Wir waren Töchter, und wir blieben Töchter. Wir waren Schwestern, und wir blieben Schwestern.
    »Die Kinder sind aus dem Haus gegangen«, sagte Vika.
    »Der Mann ist gestorben.«
    »Die Männer sterben meistens früher, weil sie älter sind als ihre jungen Frauen.«
    Die Frauen heiraten ältere Männer, dachten sie, weil sie wissen, dass sie bald nicht mehr schön und attraktiv sein werden, weil sie schneller verfallen als die Männer. Auch wenn sie sich jung fühlen, sie sehen nicht mehr jung aus. Das ist entscheidend. Ihr Glück als schöne Frau ist von kurzer Dauer. Da können sie sich noch so stark schminken. Aus einer Geliebten wird zuerst eine Gattin, dann eine Mutter und schließlich die Frau an seiner Seite.
    Ruths linker und Vikas rechter Fuß schlugen leicht gegeneinander, es war wie ein Freundschaftsklaps.
    Uns trennen glücklicherweise nur zwei Jahre, dachten sie. Was sind schon zwei Jahre. Wir haben zusammen gelebt, wir werden zusammen sterben. Der Tod ist nicht knauserig, er wird uns auf unsere letzten Tage nicht auseinanderreißen.
    »Dann sitzen die alten Witwen alleine zuhause und langweilen sich«, sagte Ruth. »Sie wissen nichts mit sich anzufangen. Sie haben es nicht gelernt. Wann hätten sie es lernen sollen.«
    »Sie starren wie hypnotisiert auf ihr verpasstes Leben.«
    »Sie reden sich ein, es sei alles gut gelaufen«, sagte Ruth, »dabei wissen sie doch insgeheim, dass sie ihr Leben nicht gelebt haben.«
    Sie schaute an die Zimmerdecke, der Himmel ihres Alters.
    »Sie sitzen da und warten darauf, dass ihre Kinder sie besuchen. Aber die Kinder haben ihre eigenen Familien.«
    Vika strich mit der Hand über ihren Rock.
    Den kaufte ich in New York, dachte sie. Die guten einfachen Dinge halten am besten. Die guten einfachen Dinge veralten nicht.
    »Sie sind alt und allein und haben noch viele Jahre vor sich. Und sie haben nicht gelernt, alleine zu leben.«
    Wann hätten sie es lernen sollen, dachte Ruth.
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