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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen
Autoren: Michael Harvey
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Seitenstraße und sondierte die Lage. Der Cop stand noch immer an der Ecke. Auch der Mann mit der Obdachlosenzeitschrift hatte sich nicht vom Fleck gerührt, und der Penner saß nach wie vor auf der Bank in der Bushaltestelle. Im Grunde war die ganze Szene die gleiche geblieben. Mein Blick glitt über die Menschen, die überall saßen, tranken und den warmen Abend genossen. Ich spürte das Messer auf der Haut, das ich an meinem Gürtel befestigt hatte. Dann setzte ich mich in Bewegung.

ACHTUNDVIERZIG
    Für ein paar Stunden sah ich ihm bei der Jagd zu. Er hatte sich vorbereitet und war geduldig, das waren seine Stärken. Meine Aufgabe war es, an ihm dran zu bleiben und dabei unsichtbar zu sein. Es wunderte mich, wie gut ich darin war. Wie der Stiefvater, so der Stiefsohn.
    Ich schnappte ihn mir um Punkt Mitternacht. Die Bars und Clubs waren dabei, zu schließen, die Menschen strömten heraus und ergossen sich über die Bürgersteige. Er hatte nur Augen für seine Beute. Ein Junge, so um die dreizehn Jahre alt. Er war allein, trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, seine Haare waren blau gefärbt und stachlig gestylt. In der letzten Stunde hatte er ihn ein ums andere Mal ins Visier genommen. Dann steuerte der Junge eine Gasse an, wollte wahrscheinlich eine rauchen oder pinkeln. Mein Stiefvater heftete sich an seine Fersen. Als er an mir vorbeikam, rempelte ich ihn an und brachte ihn aus dem Tritt. Er stolperte in einen Hauseingang. Mit einem einzigen Schritt war ich bei ihm, holte aus und jagte ihm eine Spritze in den Schenkel. Seine Hand schoss vor und umklammerte mein Handgelenk. Es war zu spät. Für einen Moment war mir, als hätte ich so etwas wie ein Erkennen in seinem Blick gelesen, doch dann flatterten seine Lider und schlossen sich. Er sackte in meine Arme. Ich hob die Kappe auf, die ihm vom Kopf gefallen war, umfasste ihn und half ihm die Straße hinunter. Den Leuten, die mich fragten, ob ihm etwas fehle, sagte ich, er sei betrunken, und sie wandten sich ab. Nicht einmal die Cops interessierten sich für einen Säufer. Wenig später hatte ich ihn hinten in den Van verfrachtet, ausgezogen, geknebelt und die Hände und Füße gefesselt. An dem Anblick hätte ich mich gern noch geweidet, aber dazu fehlte mir die Zeit. Abgesehen davon schlug mein Herz plötzlich bis zum Hals. Ich setzte mich ans Steuer des Vans, stellte den Motor an und fuhr nach Evanston zurück. Es war ein Kinderspiel gewesen, einfacher, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Ich hatte ein Raubtier erlegt, das in meiner Phantasie übermächtig gewesen war.
    »Woran erinnerst du dich noch?«, fragte ich.
    Er blinzelte und versuchte, sich zu bewegen. Der Stoffstreifen, mit dem ich seinen Kopf festgebunden hatte, zwang ihn, mich anzusehen.
    »Kennst du das noch?« Ich zeigte auf das viereckige Loch im Boden. Seine Lider zuckten.
    »Du bist im Keller. Deinem alten Keller.«
    In seinem Blick lag Verachtung. Oder vielleicht auch nur Langeweile. Ich packte die schwarze Kurbel, zog das Seil um sein rechtes Bein enger und sah, wie er die Muskeln anspannte.
    »Ich habe neue Stricke gekauft, aber es ist noch die alte Seilwinde. Nur die Scharniere habe ich geölt. Es ist auch noch derselbe Tisch.« Ich klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Platte. Dann schnippte ich gegen die Kabelbinder, mit denen ich seine Hände und das linke Bein an den Tisch gefesselt hatte. »Ich hätte deinen ganzen Körper mit der Winde verbinden können, du weißt ja, wie das geht.«
    Ich griff nach der Kurbel und zog das Seil noch enger. Sein rechtes Bein verdrehte sich. Mein Stiefvater biss auf den Knebel in seinem Mund.
    »Ich nehme an, das gefällt dir«, sagte ich. Die Sehnen in seinem Nacken spannten sich an. Er versuchte, den Kopf wegzudrehen.
    »Möchtest du reden?« Ich tat, als wolle ich ihm den Knebel aus dem Mund nehmen, doch dann zog ich die Hand zurück. »Ach nein, vielleicht doch nicht.«
    Ich drehte an der Kurbel und wurde belohnt. Mein Stiefvater ächzte.
    »Vier Zähne im Rad«, sagte ich. »Ich weiß es noch genau, denn an dem Punkt fing Matthew an zu schreien. Ich schrie mit ihm. Du hast das Radio angestellt. Dann hast du noch mal nachgelegt.«
    Ich umschloss die Kurbel. Edward Cooper war ein Serienmörder. Im Vergleich zu seinen Taten war es kaum der Rede wert, ihm ein Bein zu brechen. Ich kurbelte und hörte in einer der dunklen Ecken eine Stimme flüstern. Zuerst dachte ich, es wäre meine Stimme oder als spräche dort der trostlose
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