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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen
Autoren: Michael Harvey
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höre.«
    »Dein Stiefvater kommt vor Gericht. Er wird seine Strafe erhalten.«
    »Und du meinst, das genügt?«
    »Es muss genügen, denn sonst hätte er gewonnen.«
    Wir schwiegen. Dann erklangen Schritte, und Michael Kelly kam über die Treppe nach unten. Ich kehrte mich zu Sarah um. »Ist er der Schutzengel?«
    Sie lächelte und strich über meine Wange. »So etwas in der Art.«
    Ich trat zu meinem Stiefvater. Er sah mich an und nannte mich stumm einen Feigling. Einmal Feigling, immer Feigling. Ich wandte mich zur Treppe um. Kelly legte eine Hand auf die Kurbel und riss sie herum. Ich hörte das Knacken eines brechenden Knochens und einen Schrei, der selbst durch den Knebel hoch und schrill durch den Raum drang. Dann nahm Kelly meinen Arm und führte mich die Stufen hoch. An der Kellertür schob er mich hinaus in den Flur und schloss die Tür hinter mir.

FÜNFZIG
    Mein Stiefvater kam vor Gericht und erhielt sechs Mal lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung. Er würde in dem hundert Jahre alten Hochsicherheitsgefängnis sterben, das nahe der Staatsgrenze von Illinois und Missouri lag. Als das Urteil gesprochen wurde, sah ich ihn hoffentlich zum letzten Mal. Während des Prozesses hatte er meist mit gesenktem Kopf gesessen und kein Wort gesagt. Nach dem Schuldspruch stand er auf, das linke Bein war geschient. Zwei Polizisten legten ihn in Ketten. Währenddessen sah er sich im Gerichtssaal um. Ich wollte mich davonstehlen, doch ich blieb. Sein Blick streifte mich, wanderte weiter und kehrte zu mir zurück. Sein Gesicht war eingefallen und vernarbt, das Haar aus der Stirn nach hinten gestriegelt. Seine Lippen formten Worte, die ich nicht verstand. Er hob die Fesseln. Ich schaute auf seine kräftigen Hände und Arme und dann in die Augen, die mich als Kind geängstigt hatten. Ich wollte das Monster erkennen, sah aber nur einen alten Mann. Ich wollte wütend sein, doch das Einzige, was ich empfand, war Trauer. Vielleicht hatte Sarah recht. Vielleicht war ich mit ihm fertig.
    Wir trafen uns in Mustard’s Last Stand, bestellten uns Pommes und setzten uns in den Biergarten.
    »Wie war’s?«, fragte sie.
    »Es hat einfach stattgefunden. Er wurde verurteilt, und jetzt gibt es ihn nicht mehr.«
    »Bist du froh, dass du im Gericht warst?«
    »Ich denke schon. Es hat mir irgendein Gefühl gegeben. Als wäre ich an einem Wendepunkt angelangt.«
    »Ab jetzt wird alles besser.«
    »Ich weiß.«
    Sarah tastete nach meiner Hand, unsere Finger verschränkten sich ineinander. »Möchtest du darüber reden?«
    »Ich glaube nicht. Heute nicht.« In dem Wind, der durch den Biergarten wehte, lag schon ein erster Hauch Kälte. Ich sah auf meine Uhr. »Wann geht dein Flug?«
    »In drei Stunden.«
    »Ich war noch nie im Westen«, sagte ich. »Aber ich wette, dir wird es dort gefallen.«
    »Kommunikationswissenschaften in Berkeley? Ja, die Seminare sollen hervorragend sein. Und San Francisco ist auch nicht weit entfernt.«
    »Ja.«
    Sie legte den Kopf zur Seite und hielt meinen Blick fest. »Was ist?«
    »Nichts.«
    »Lüg nicht.«
    »Du wirst mir fehlen.« Als ich es sagte, kam ich mir nackt und verletzlich vor.
    »Du kommst mich doch besuchen.«
    »Es wird aber nicht mehr dasselbe sein.«
    »Das fände ich gar nicht so schlecht.« Sie grinste, und ich musste lachen. Die Welt drehte sich ein kleines Stück weiter.
    »Im Dezember bin ich wieder hier«, sagte sie.
    »Das halte ich für einen Fehler.«
    »Darüber haben wir schon gesprochen. Mein Entschluss steht fest.«
    Als Marty Coursey in Sarahs Wohnung einbrach, hatte er einen Polizisten als Komplizen, der auf dem Spiegel in Sarahs Schlafzimmer einen klaren Daumenabdruck hinterlassen hatte. Rodriguez hatte ihr versprochen, sich um den Mann zu kümmern und ihn in aller Stille aus dem Verkehr zu ziehen. Doch Sarah bestand auf einem Gerichtsverfahren und ließ sich von niemandem beirren.
    »Weißt du auch, warum?«
    »Nein, das weiß ich immer noch nicht.«
    »Ich glaube an das System. Und daran, dass man innerhalb seiner Grenzen agieren muss. Selbst wenn es nicht perfekt ist und es mitunter Schweine gibt, die davonkommen. Deshalb möchte ich, dass dieser Mann angeklagt wird und die Geschworenen die Beweise sehen, die gegen ihn sprechen.«
    »Und was ist, wenn er freigesprochen wird?«
    »Dann mache ich es so, wie du es getan hast. Ich werde gegen meine Dämonen angehen. Und eines Tages werde ich von ihnen befreit sein.«
    »Hast du nicht mal gesagt, dass man seiner Vergangenheit nie
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