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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen
Autoren: Michael Harvey
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Wasser. Coursey kam als Erster durch den Trennvorhang, ein Gewehr in den Händen. Dann erschien Z. Sie hatte das Messer aus dem Gürtel gezogen. Ein scharfes, tückisches Instrument. Coursey nahm es ihr ab, reichte ihr sein Gewehr und hockte sich vor Jake. Ein Schakal, der die Reste einer Mahlzeit beäugt.
    »Lassen Sie ihn am Leben«, bat ich. »Er hat nichts gesehen.«
    »Schnauze.« Coursey warf Z einen Blick zu. »Ich dachte, die beiden wären noch weggetreten.«
    »Wir sind weiter hinausgefahren, als ich vorhatte. Mach einfach das, was wir abgesprochen haben.«
    »Bitte.« Ich hob die Hände. Z umklammerte das Gewehr.
    »Lassen Sie das«, sagte sie. »Es ist zu spät.«
    »Ich sollte ihm noch ein paar Kugeln verpassen«, sagte Coursey und deutete auf Jake. »Dann sind wir sicher, dass er keine Schwimmübungen mehr macht.«
    »Deshalb ist es gut, dass wir so weit draußen sind«, entgegnete Z. »Ich will nicht, dass sie morgen schon an Land gespült werden.«
    Jake stöhnte. Sein Blut sickerte über den Boden.
    »Ich geh lieber auf Nummer sicher«, sagte Coursey.
    »Schaff ihn nach oben.«
    Coursey taxierte Z und entschied offenbar, es wäre besser, sich nicht mit ihr anzulegen. Oder wenigstens noch nicht. Er riss Jake den Verband ab und schleifte seinen schlaffen Körper über den Boden. Ein Windstoß zerzauste Courseys Haar und legte kahle Schädelstellen mit Leberflecken frei. Er zerrte Jake zum Schanzdeck. Ich hörte, dass ich »nein« schrie. Jake ging beinah lautlos über Bord. Dann war sein Kopf unter Wasser und kam nicht mehr hoch. Coursey wandte sich zu mir um.
    »Bereit?«, fragte er Z.
    Z hatte das Gewehr angelegt. »Ja, jetzt mach schon.«
    Coursey legte das Messer ab und packte mich mit beiden Händen. »Also los, Junge. Mach keine Zicken.«
    Er hob mich hoch und ächzte unter dem Gewicht meines Körpers. Ich hörte einen Laut. Es klang, als hätte jemand in die Nacht gespuckt. Als ich den Kopf drehte, sah ich Z taumeln, ehe sie zu Boden ging. Auch Coursey wandte sich zu ihr um. Ich warf meine Arme über ihn und riss uns beide über Bord.
    Unter Wasser zog ich Coursey fest an mich heran und ließ uns sinken. Es dauerte einen Moment, ehe er begriff, was ich vorhatte. Gleich darauf verdrehten sich seine Augen, er krallte und trat nach mir, aber er war ebenso wie ich gefesselt. Panisch wie er war, verbrauchte er jede Menge Sauerstoff. Als er auch das erfasste, lächelte ich ihn an. Wir sanken noch immer, die dunkle Farbe des Wassers vertiefte sich, aber ich sah sein Gesicht, das nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Aus seinem Mund stieg eine Luftblase auf. Dann stieß er den Atem aus und versuchte krampfhaft, in die Höhe zu steigen. Ich hielt ihn fest. Er hustete. Ich spürte, wie die Dämonen kamen.
    Ich hielt ihn umklammert, bis er sich nicht mehr regte. Dann hob ich die Arme und sah zu, wie er davontrieb. Ich war allein, immer noch gefesselt und auf dem Weg in die Tiefe. Sarahs Gesicht blitzte vor mir auf. Ich sah das Salz auf ihrer Haut, spürte warme Sonnenstrahlen und öffnete meinen Mund zu einem letzten wässrigen Atemzug.

SECHSUNDVIERZIG
    Wenn man ertrinkt, ist der Rachen der letzte Verteidigungswall, die Palastwache, wenn man so will. Ganz gleich, wie sehr man zu sterben wünscht, der Rachen verschließt sich, wenn er eine zu große Wassermenge spürt, und weiß, dass er alles tun muss, um die Lunge zu schützen. Es dauert nicht lange, nicht mehr als zehn, höchstens zwanzig Sekunden. Wenn der Mensch das Bewusstsein verliert, entspannt sich der Rachen wieder. In meinem Fall hatte der kurze Zeitraum ausgereicht. Der Taucher fand mich in fünfzehn Meter Tiefe und teilte seine Sauerstoffflasche mit mir. Dann lag ich auf dem Deck des Whalers und erbrach das trübe Wasser des Lake Michigan, bis ich Galle schmeckte. Michael Kelly sah mir wortlos zu. Er trug Handschuhe und hielt ein Gewehr mit Zielfernrohr in der Hand.
    Eine Zeit lang keuchte und würgte ich noch. Wenig später kam der Taucher mit dem Schlüssel, den er gefunden hatte, und befreite mich von den Handschellen. Als Nächstes gab er mir eine Spritze, hüllte mich in eine Decke ein und reichte mir eine Tasse heiße Brühe. Ich setzte mich auf und lehnte mich gegen die Bordwand, an die ich vor einer Weile gefesselt gewesen war. Der Nebel über dem See war noch dichter geworden. Kelly hockte sich zu mir.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    »Benommen, aber sonst ganz gut.« Ich lächelte. Dann sah ich, dass meine Hände zitterten. Ich
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