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Kebabweihnacht

Kebabweihnacht

Titel: Kebabweihnacht
Autoren: Lale Akgün
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sein Sohn, sein sanfter Sohn. Was war an dem Jungen eigentlich auszusetzen? War er nicht ein ehrlicher, rechtschaffener Kerl, auf den jeder Vater stolz sein konnte? Warum hatte er nur auf andere gehört und nicht auf sein Herz?
    Es war, als ob die Angst in Arif ganz neue Saiten zum Schwingen gebracht hätte und die Tränen den Knoten lösten, der sein Herz gefangen hielt. Was war eigentlich wichtig? Wirklich wichtig? Menschen, die einen liebten und zu einem standen. Aber stand seine Frau noch zu ihm? Sie hatte kein Vertrauen mehr in ihn, das spürte er jetzt genau, und er weinte noch mehr.
    Arif weinte um das verlorene Vertrauen seiner |106| Frau, um die verlorene Liebe seines Sohnes, um seine verpfuschten Beziehungen, er weinte um seine verlorenen Jahre, und er weinte um das, was vor ihm lag. Hülya und die Kinder schauten sich ein wenig ratlos an, sie hatten noch nie erlebt, dass Arif weinte, ja, sie hatten in den letzten Jahren kaum noch erlebt, dass er mit ihnen über das Nötigste hinaus sprach.
    »Ich wollte doch nur ein guter Muslim sein«, fing er jetzt an, »und ich wollte, dass ihr auch gute Muslims seid, gottesfürchtige Menschen, die vor Gott keine Fehler machen. Mehr wollte ich eigentlich nicht, und da ich mich in unserer Religion nicht wirklich auskannte, habe ich mir halt erzählen lassen, wie es richtig ist. Ich wollte mich und euch für Gott gewinnen, ich wollte euch doch nicht verlieren. Und ich musste euch suchen, weil ihr euch vor mir versteckt hattet. Das ist bitter für mich, dass sich meine Frau und mein Sohn vor mir verstecken! Und jetzt sitzen wir hier in diesem Zimmer, aber ich danke Gott, dass ich euch gefunden habe und wir hier sitzen dürfen.«
    Arifs Tränen und seine Rede hatten auch das Herz von Hülya erweicht. »Ich bin nicht weggelaufen«, sagte sie jetzt leise. »Ich war nur so sauer auf dich, weil du alles und jedes schlechtgemacht hast, was uns ein bisschen Freude bereitete. Und als du auch noch die Rohowskys angegriffen hast, diese herzensguten alten Leute, da habe ich gedacht, ich halte es nicht mehr aus.«
    »Ich weiß«, erwiderte Arif leise. »Es war nicht in |107| Ordnung, auch ich habe nie etwas Schlechtes von den Rohowskys erfahren.«
    »Und als mich Umut dann fragte, ob ich mit ihm hier feiern wolle«, fuhr Hülya fort, »habe ich sofort zugesagt und mich gefreut, dass mein Junge noch Vertrauen in mich hat. Außerdem – was soll schlecht dran sein, Weihnachten zu feiern?«
    »Ich weiß«, wiederholte Arif. »Und meiner Ansicht nach ist es nicht einmal unislamisch, denn im Koran wird die Geburt Jesu genau beschrieben, und es gibt sogar eine extra Sure dafür. Es heißt dort, dass uns ein Prophet geboren werde, und dieser Prophet ist Jesus. Das sagt doch alles! Aber der Imam hat immer etwas anderes erzählt, und ich habe auf den Imam gehört und nicht auf meinen Verstand.«
    »Du hast all die Jahre gewusst, dass es nicht unislamisch ist, Weihnachten zu feiern, und du hast es mir trotzdem verboten?« Umut sah ihn empört an.
    »Ich weiß«, sagte Arif schon wieder. »Auch das war ein Fehler, und eigentlich war es unislamisch, dich nicht feiern zu lassen. Ja, mehr noch, eigentlich hätte ich mit dir feiern müssen.«
    »Wie heißt denn diese Sure?«, fragte jetzt Ayla vorsichtig, der dieser Sinneswandel eindeutig zu schnell ging.
    »Die Maryam-Sure«, antwortete Arif. »Es ist die 19. Sure, in der wird ganz viel von Jesus erzählt. Im Koran steht auch, dass Jesus sagt: ›Darum war Frieden auf mir am Tag, da ich geboren wurde.‹ Also steht |108| ja im Prinzip auch im Koran, dass Weihnachten das Fest des Friedens ist.«
    »›Hör auf dein Herz und nicht auf den Imam!‹«, sagte Hülya. »Das sagte immer mein Großvater, und er war ein weiser Mann. »Arif«, sagte sie jetzt leiser, »wie war das denn früher, in unserer Stadt in Malatya, haben wir nicht alle friedlich zusammengelebt, Sunniten, Aleviten, Christen? Wir müssten es mindestens genauso gut machen wie unsere Mütter und Väter, doch so, wie es jetzt läuft, können wir ihnen das Wasser nicht reichen. Wir sind rückständiger als sie.«
    »Stimmt das, Papa?«, fragte Ayla. »Habt ihr früher in Malatya alle friedlich zusammengelebt? Und auch zusammen gefeiert?«
    Arif nickte unmerklich. Was war denn verlorengegangen auf der Reise von Ostanatolien nach Deutschland? Die Toleranz? Die Großzügigkeit? Die Gelassenheit, mit der man die anderen akzeptieren konnte? Warum hatte er sich all die Jahre nicht an seinem
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