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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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molligen Schauspielerin nicht ekelhaft genug war. Erst die ukrainische Folklore begeisterte sie wirklich.
    »Wie heißt diese tolle Band?«, fragte sie Jurij.
    »Diese Band heißt WW«, antwortete er.
    »Wunderbar!«, rief die Schauspielerin den Gästen zu. »Kommen Sie hierher, unser Jurij hat MM!«
    Nach einer Stunde zärtlicher Musik verwandelte sich die Party allmählich in eine Tanzorgie. Jurij legte zuerst fleißig MM auf, dann ging er zum traditionellen Punk über. Der künstliche Schnee schmolz zusammen. Die blauen Matrjoschkas wurden rot. Die Russen griffen den schönen Adventskalender ab und stopften sich die Taschen mit Peugeot-Gutscheinen voll. Die Veranstalter waren voller Verständnis. Genau so und nicht anders hatten sie sich Un Noel Russe vorgestellt.
    Nach diesem gelungenen Abend kam uns die Idee, eine Platte mit zärtlicher russischer Musik herauszubringen, alles zwischen Soul und Reggae. Man kann unter dem russischen Schnee nämlich erstaunlich
    viel jamaikanische Sonne finden. Die Arbeit an dem Projekt »RussenSoul« ging trotzdem nur schleppend voran. Die russischen SoulMusiker erwiesen sich als komplizierte Persönlichkeiten, manchmal noch komplizierter als die Punks. Vor allem aber waren sie sehr langsam bei den Verhandlungen. »Mein lieber Freund«, schrieb uns einer, nachdem Jurij ihn nach den Rechten an einem seiner Songs gefragt hatte, »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer es mir fällt, allein nur diese E-Mail an Sie zu schreiben, von irgendwelchen Rechteübertragungen ganz zu schweigen.«
    Bei der Auswahl der Musik waren Jurij und ich uns sofort einig. Die Liste der Bands, die dazu gehören mussten, füllte sich wie von allein, nur der Umschlag für den Russen-Soul machte uns zu schaffen. Denn wir hatten beschlossen, dass auf dem Cover die russische Seele abgebildet sein sollte, und zwar in einer Art, dass jeder sie ohne Schwierigkeiten erkennen konnte. Bei der grafischen Darstellung der Seele gingen jedoch die Meinungen aller am Projekt Beteiligten auseinander. Ich schlug ein meiner Meinung nach beeindruckendes Bild vor: eine rotbackige, lebensfrohe Frau mit einem Eisbären an der Leine und einer Fackel in der Hand — in etwa wie die Freiheitsstatue, nur dicker. Der Kollege Jurij lehnte ab unter dem Vorwand, ein solches Bild schon mal auf einer Wodkaflasche gesehen zu haben.
    Unser Designer Dima wollte zuerst ein Bild von Rasputin auf dem Cover haben, möglichst mit einem überlangen Bart und verrückt geschminkten Augen. Er machte sogar mehrere Entwürfe dazu, doch sein Rasputin sah immer wie Marilyn Manson aus und hatte mehr mit Drogen als mit der russischen Seele zu tun. Der Kollege Jurij lehnte dieses Motiv ebenfalls ab, mit der Begründung, auch dieses Bild schon einmal auf irgendeiner Wodkaflasche gesehen zu haben.
    Von meiner Frau kam die Idee, eine oder mehrere Frauen mit typisch russischem Gesichtsausdruck und Kopftüchern für das Cover zu fotografieren. Wir schossen von allen unseren Frauen viele Fotos. Es war ein amüsanter Fototermin, nur kamen wir dabei irgendwie vom eigentlichen Thema ab, und Kopftücher wollten die Frauen auch nicht tragen. Die Diskussion, wessen Frau denn nun die russische Seele am besten verkörperte, führte ebenfalls in eine Sackgasse. Obwohl es Spaß gemacht hatte, die Frauen zu fotografieren, mussten wir am Ende einse
    hen, dass es uns vom Eigentlichen abgelenkt hatte. Entweder Frauen fotografieren oder Cover machen, beides zusammen ging nicht.
    Die Vorschläge zur grafischen Darstellung der russischen Seele mehrten sich stündlich. Freunde und Bekannte riefen an und erzählten, wie sie sich eine russische Seele vorstellen würden. Jeder schien ein ganz eigenes Bild davon zu haben: von einem Pfeil durchbohrte Herzen, Balalaikas in Blut schwimmend, augenzwinkernde Pik-Damen — das alles wurde diskutiert und dann vom Tisch gefegt. Mein alter Freund Goff rief an und sagte, er habe gerade eben beim Mittagsschlaf deutlich gesehen, wie die russische Seele auszusehen habe: wie diese Kalender aus unserer Kindheit, die bei leichtem Drehen ein anderes Bild zeigten. So sollte auch die russische Seele grafisch dargestellt werden: als wandlungsfähig. Auf einem Bild zum Beispiel Schwanensee und auf dem anderen irgendeine Schweinerei. Jurij meinte dazu nur, ein solches Cover neulich schon irgendwo gesehen zu haben, aber nicht auf einem Wodkalabel, sondern auf der Platte Psycho Circus von KISS.
    Wir waren ratlos. Alles war schon einmal da gewesen.
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