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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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Sozialismus hatten die offiziellen Liedermacher grundsätzlich nur positive Werte zu vermitteln. Man hatte heimatverbunden, parteitreu und zukunftsoptimistisch zu sein. Das Einzige, was die in den Liedern besungenen Sowjetbürger aus der Fassung bringen durfte, war eine unglückliche Liebesbeziehung. In diesen Schlagern war es immer die Frau, die dem Sowjetbürger weglief. Das hat ihn dann doch sehr traurig gemacht. Aber nicht lange, denn er hatte ja noch immer die Heimat und die Partei, die ihm garantiert nicht weglaufen würden. Wenn die Frauen
    auch noch geblieben wären, hätte es in der Sowjetunion überhaupt keine traurigen Lieder gegeben. Damit man aber eine gescheiterte Beziehung nicht allzu schwer nahm, wurde in diesen Liedern der Verlust der Frau stets mit dem Kreislauf der Natur in Zusammenhang gebracht: Blühte der Flieder, die Kirsche, die Gladiole, kamen Mann und Frau zusammen, verwelkten die Pflanzen, gingen auch die Menschen auseinander. Später, im wilden Kapitalismus, kamen noch andere traurige Themen dazu. Neben dem Mangel an Frauen etablierte sich der Mangel an Geld fest in der Musikbranche. Ohne kommunistische Partei und sowjetische Heimat hat sich das Thema »Lebensglück« nun endgültig auf Frau und Geld reduziert — hast du sie nicht, kannst du dich aufhängen.
    Im westlichen, entwickelten Kapitalismus ist man inzwischen viel weiter: Hier kann einer auch ohne Frau und Geld glücklich werden. Zum Beispiel rein durch positives Denken. Mein Nachbar Georgij zum Beispiel, der glaubt, dass man in Büchern Antworten auf alle Fragen des Lebens finden kann, hat neulich dieses Ungeheuer entdeckt. Die Methode zum Glücklichsein basiert darauf, dass man andere Menschen manipuliert und sich dadurch angeblich enorme Vorteile verschafft. Eigentlich ist das positive Denken für Leute gedacht, die arbeiten gehen. Dort können sie ihre Arbeitskollegen als Versuchskaninchen benutzen und ihre neu erworbenen Erkenntnisse bei ihnen anwenden. Als Langzeitarbeitsloser hat unser Freund keine solchen Kollegen, nur Freunde und Nachbarn. Kurz gesagt: uns. Deswegen müssen wir sein positives Denken ertragen. Da wird zum Beispiel empfohlen, immer zu grinsen. Das wirke nur anfangs aufgesetzt, meinen die positiven Denker, führe aber dann zu einer Verinnerlichung des Optimismus, wecke Vertrauen und verwandle sich nach einer gewissen Zeit in ein ganz natürliches Lächeln. Darauf warten wir nun alle gespannt. Bis jetzt hat Georgijs Grinsen nur für Unmut bei seinen Mitmenschen gesorgt.
    »Hör auf zu grinsen«, sagten alle zu ihm. »Du siehst wie ein verdammter Pinocchio aus, oder hast du am falschen Joint gezogen?«
    »Ganz und gar nicht«, meinte Georgij, das sei seine natürliche Körpersprache, die er erst jetzt entdeckt habe.
    »Kannst du denn nicht für deine Körpersprache auch mal andere Körperteile benutzen? Die Finger zum Beispiel oder den Hintern? Und nicht immer nur grinsen? Man will dich auch mal traurig sehen, zumindest nachdenklich, romantisch oder verträumt! Hast du überhaupt noch Träume?«, versuchte ich ihn zur Vernunft zu bringen.
    Georgij widersprach nicht, er grinste weiter — genauso wie es in seinem Buch über positives Denken empfohlen wird. Ich gab trotzdem nicht auf.
    »Du hast doch bestimmt mal Gedichte geschrieben!«
    »Klar, als Kind, in der Schule«, nickte er grinsend.
    »Was hast du denn geschrieben?«
    »Irgendetwas über Tiere, ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, antwortete er.
    »Das ist aber seltsam, dass du dich an deine eigenen Gedichte nicht erinnern kannst!«
    »Sie waren aber auch Scheiße«, grinste er.
    »Meine doch auch«, entgegnete ich. »Trotzdem habe ich noch viele davon im Kopf. Ich habe früher sogar Gitarre gespielt und Liebeslieder gesungen. Eines ging so:
    Dort, wo alter Ahorn seine Blätter verliert, Sprach ich oft und gern über Liebe mit dir. Im September hat man den Ahorn abgesägt, Und die Liebe war plötzlich aus und weg.«
    »Das ist aber auch wirklich. äh... sehr schön«, grinste mein Nachbar und wollte gehen.
    »Versprich dir nicht zu viel von deinem positiven Denken!«, sagte ich zum Abschied.
    Wie unglaublich naiv die Menschen sind — oder bin ich nur zu dumm, um sie zu verstehen? Meine Mutter erzählte mir neulich die letzten Nachrichten aus dem russischen Fernsehen. In Saratow hat eine Firma die halbe Stadt geprellt. Sie hatten den Bewohnern angeboten, Gladio
    lenzwiebeln für sechzig Rubel das Stück erwerben zu können und sie bei sich zu
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