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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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unvergänglichen Pockenimpfungen, die große Narben auf ihrem linken Oberarm hinterließen. Ich kann mich noch gut an den Mann im weißen Kittel erinnern, der uns in der fünften Klasse zur Zwangsimpfung in der Schule besuchte, an seine Riesenspritze und an sein sardonisches Grinsen. Damals dachten wir, es wird gemacht, um uns eine eiserne Gesundheit zu verpassen und für immer vor allen möglichen tödlichen Krankheiten zu schützen. Heute weiß ich, was das wahre Ziel war: Wir sollten uns immer in der postsozialistischen Welt erkennen können, mindestens am Strand oder im Bett: »Was, du auch?«
    Wir hatten übrigens die beste kostenlose Medizin der Welt. Alle, die sowjetischen Ärzten misstrauten und sich weigerten, in die Poliklinik zu gehen, haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Unsere Tabletten waren die größten der Welt und konnten gleichzeitig gegen Kopfschmerzen und Durchfall helfen, wenn man sie richtig einnahm. Und wer jemals bei einem sowjetischen Zahnarzt eine Plombe verpasst bekam, den konnte keine kapitalistische Bohrmaschine mehr aus der Fassung bringen. Die sowjetischen Zahnärzte haben nämlich oft ganz ohne Bohrmaschine, quasi nur mit Hammer und Sichel, ihre Leistungen vollbracht. Manche Plombe saß nicht richtig fest, manche konnte sogar Funkstörungen verursachen, wenn der Patient sich anschließend in der
    Nähe von Radio- und Fernsehempfängern aufhielt. Aber das hat niemanden weiter gestört. Im Fernsehen hatten wir nämlich nur vier Programme. Auf drei Programmen lief der aktuelle Parteitag, im vierten saß ein uniformierter Schnurrbartträger an einem Tisch und drohte dem Fernsehzuschauer mit dem Finger: »Hör auf herumzuzappen!«
    In der Schule lernten wir, wie unser Land entstanden ist, nämlich als die ultimative Antwort auf alle zwischenmenschlichen Konflikte, alle nationalen Auseinandersetzungen, Kriege, Umweltverschmutzungen und Ungleichheiten in der kapitalistischen Klassengesellschaft. Drüben gab es Arm und Reich, es gab die Unterdrücker und die Unterdrückten, bei uns dagegen gab es weit und breit nichts mehr von beidem. Alle waren schon am frühen Morgen freundlich. Auf unseren geografischen Schulkarten war China gelb gezeichnet, Amerika hellbraun und Kanada dunkelgrün. Unser Land war rot und das größte überhaupt. Über die tatsächlichen Ausmaße konnte man nur spekulieren. Mein Nachbar, Onkel Oleg, zum Beispiel arbeitete als Ingenieur in einer geheimen Fabrik zur Produktion von Langstreckenraketen, die den Weltfrieden endgültig sichern sollten. Alle sechs Monate musste er auf Dienstreise zum Kosmodrom Baikonur nach Kasachstan fahren. Sechs Tage mit dem Zug hin und anschließend sechs Tage wieder zurück. Unterwegs stieg er noch wegen verschiedener geheimer Konferenzen aus und übernachtete in irgendwelchen geheimen Hotels. Seine Frau, Tante Inna, war sehr eifersüchtig. Sie rief ihn jede Nacht an.
    »Wo bist du, Oleg?«, rief sie durchs Telefon.
    »Ich darf es dir nicht sagen«, zischte ihr Mann in den Hörer.
    »Wer lacht da im Hintergrund? Bist du allein? Kannst du es beweisen? Beweise es! Beweise es sofort!«
    Onkel Oleg kannte viele sowjetische Kosmonauten persönlich, er erzählte uns gern von seinen Begegnungen mit ihnen und genoss große Autorität, denn Kosmonauten waren unsere Helden. Die Entwicklung der Kosmonautik bestimmte die Geschichte unseres Landes. Im Sommer 1957 fand in Moskau das Internationale Festival der Jugend und Studenten statt. Meine Mutter wurde als Leiterin der Komsomolzelle ihres Betriebes, der Schienengabelstapler produzierte, zur Eröffnung geschickt. Sie winkte dort mit einer kleinen Fahne und sang das Lied
    »Moskauer Nächte«, das in jenem Jahr geschrieben wurde. Die Zeitungen im Westen kommentierten das Ereignis vorsichtig als mögliches Zeichen dafür, dass der Kalte Krieg bald beendet sein würde. Zwei Monate später aber, im Oktober, schossen die Russen ihren ersten Sputnik in den Weltraum. Die Kugel war nicht größer als eine Wassermelone, wog vierundachtzig Kilo und umkreiste in achtundneunzig Minuten einmal die Erde. Die Amerikaner erstarrten.
    »Wir sind den Russen ausgeliefert«, schrieb der amerikanische Schriftsteller Paul Dickson in seinem Werk Russian Sputnik: The Shock of the Century. »Wir haben sie lange Zeit unterschätzt und gescherzt, eine russische Atombombe in einem Reisekoffer würde es nie geben, weil die Russen zwar Atombomben bauen, aber keine Reisekoffer produzieren könnten. Jetzt werden sie uns mit ihren
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