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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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und arbeite bei einer Computerfirma, und dort in Köln würden ständig irgendwelche Partys und Kostümbälle gefeiert. Ihre Kollegen hatten zuletzt aus Spaß eine Party angekündigt, zu der jeder in dem Aufzug erscheinen sollte, der deutlich machte, was er oder sie als Kind immer werden wollte. Alle männlichen Kollegen verkleideten sich als Fußballer oder Feuerwehrmänner, die weiblichen als Friseurinnen beziehungsweise Verkäuferinnen. Dazu gingen sie in einen speziellen Laden für Kindertraum-Berufskleidung und liehen sich dort die entsprechende Garderobe für zehn Euro pro Tag aus.
    »Und was sollte ich machen?«, beschwerte sich meine Bekannte. »Ich wollte Kosmonautin werden, mein Mann noch schlimmer: Stahlkocher. Für so was gibt's in Köln keine Läden!« Aus mehreren Müllsäcken und zehn Rollen Silberfolie kreierten die beiden daraufhin ihre umweltfreundlichen Kosmonauten-Stahlkocher-Anzüge zum Wegwerfen. Als Helm wollte meine Bekannte unbedingt ein Kinderaquarium benutzen, um der Authentizität willen. Zum Glück passte ihr Kosmonautenkopf
    nicht hinein. Sie lieh sich stattdessen bei einem Freund einen Motorradhelm für die Party aus.
    In meiner Jugend begannen die Studienbroschüren Was möchte ich werden? stets mit dem Satz: »Mit siebzehn stellt sich jeder die Frage: >Was möchte ich werden? Womit soll ich mich beschäftigen?«« Nach einem kurzen Leitartikel waren dann etliche Fachschulen aufgelistet, Ausbildungsstätten für die richtigen Berufe, die das Land brauchte. Kosmonauten und Stahlkocher waren nicht darunter, dafür waren sie aber ständig im Fernsehen. Heute sind in Russland solche Broschüren viel dicker und mit vielen Farbfotos geschmückt, auf denen Männer und Frauen unbestimmten Alters grinsen, weil sie ihre Freude über die gelungene Berufswahl nicht unterdrücken können. Der Leitartikel beginnt jetzt mit dem Satz: »Nicht nur mit siebzehn stellt man sich die Frage: >Womit soll ich mich beschäftigen? Wie finde ich eine richtige Arbeit?<« Angeboten wird zum Beispiel eine teure Umschulung für Arbeitsuchende jeden Alters. Besonders populär sind zur Zeit Berufe, die umständliche englische Namen tragen: »Master of Business Administration«, »Manager für soziokulturellen Service im Showbusiness« und so weiter. Das nationale Gesundheitsinstitut wirbt für ein Umschulungsprogramm zum »Berater in nichttraditioneller fernöstlicher Medizin«. Ferner gibt es da »Psychologisches Consulting« oder »Imagemaking«. Das klingt doch alles ganz vernünftig, und wir waren damals wohl einfach bescheuert: Wie kann man sich nur wünschen, Stahlkocher zu werden?
    Der Stahlkocher und die Kosmonautin fuhren mit der U-Bahn zur Party. Im Zug erstickten sie fast in ihren Kostümen, und die Passagiere schauten sie ängstlich an. Aber was tut man nicht alles für seinen Kindertraum? Die Party fand in einem Keller statt. Alle tranken Bier und aßen Chips. Niemand wollte ihnen glauben, dass sie tatsächlich solche ausgefallenen Berufswünsche gehabt hatten, alle dachten, es sei ein Gag.
    »Warum denn Kosmonaut?«, fragten sie.
    »Ich weiß nicht«, entschuldigte sich meine Bekannte. »Es war einfach große Mode. Alle wollten Kosmonauten werden.«
    »Alle? Kosmonauten?«, wunderten sich die Kollegen.
    »Nicht alle«, sagte der Stahlkocher, »einige wollten auch Stahlkocher werden oder Spione.«
    Das Leben in der Sowjetunion war anstrengend, aber interessant. Laut unserem Geschichtsbuch wollten sich uns deswegen immer mehr Länder anschließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich halb Europa nahezu freiwillig für den Sozialismus entschieden. Wenig später kamen Korea, China, Kuba, Vietnam und Afghanistan noch dazu. Die Pessimisten munkelten, dass die sowjetischen Bürger zu nichts nutze seien, dass alle wichtigen Entdeckungen im Ausland gemacht würden. Die Chinesen hätten das Schießpulver erfunden, meinte man, die Deutschen das Fahrrad, die Amerikaner den Computer und so weiter. In der Sowjetunion lachte man darüber. Während die Chinesen ihr Schießpulver perfektionierten, erfanden die Sowjetbürger die Atombombe. Während die Amerikaner sich mit dem Computer quälten, erfanden die Russen die fleischfreien Würste, die bei weitem wichtiger als Computer waren. Sie waren rot, wie das Land auf der Karte, und wenn man sie kochte, färbten sie das Wasser rosa. Man konnte den Brei anschließend auch als Suppe auf den Tisch stellen. Und die glasierten Quarktaschen Marke Priwjet: unsere Antwort auf
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