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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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fragte ich ihn.
    Sein Nachbar sei Kinderarzt und schon immer aktiv für den Frieden gewesen. »Er wurde zu dem Kongress eingeladen, konnte aber nicht weg und hat deswegen mich dafür angemeldet.«
    Backi hatte bereits mit einigen Kinderärztinnen die Sehenswürdigkeiten von Berlin besucht; nach seinen Erzählungen zu urteilen, hatten sie jedoch vor allem eine Spritztour durch die Westberliner Kneipen un
    ternommen. Jetzt, in der Nacht, waren aber die meisten Lokale schon zu, nur ein Thailänder hatte noch auf. Wir betraten den leeren Laden.
    »Berlin ist so aufregend!«, jauchzte Backi. »So schön! Unglaublich!« Seine Augen strahlten gelbes Licht aus, sein Gesicht änderte jede Minute die Farbe von Vollrot zu Grauweiß.
    »Na ja, geht so«, antwortete ich höflich.
    »Ich finde es toll, dass bei euch auch nachts so viele auf den Straßen sind!«
    Ich guckte aus dem Fenster. Draußen war kein Mensch zu sehen. Ein kalter Regen nieselte vom Himmel.
    »Habt ihr immer so tolles Wetter?«, fragte mich Backi. Langsam kam mir sein Verhalten verdächtig vor. »Und dieses Restaurant hier! Alles so unglaublich thailändisch!«
    »Kannst du mir bitte ehrlich sagen, von Kinderarzt zu Kinderarzt, ob du irgendetwas genommen hast, bevor du mich angerufen hast? Wurden auf eurem Kongress vielleicht irgendwelche Drogen getestet?«
    »Nein«, meinte Backi, an allem sei allein Berlin schuld, eine so aufregende Stadt! Er bestellte eine Hühnersuppe extra scharf und ein großes Bier. Als die Suppe kam, roch Backi am Teller, sagte »Unglaublich!«, und sackte mit dem Kopf nach unten und dem Löffel in der Hand auf den Boden. Die thailändische Kellnerin blieb mit dem Bier stehen.
    »Schütten Sie bitte die Suppe nicht weg, mein Freund muss nur mal kurz an die frische Luft«, bat ich sie und zerrte Backstein nach draußen. Wir stoppten ein Taxi und fuhren zur Notaufnahme ins nächste Krankenhaus. Die Schwester nahm Backi mit in ein verglastes Zimmer, ich blieb im Korridor und wartete. Nach zwei Minuten konnte Backi schon wieder sprechen. »Unglaublich!«, hörte man ihn in dem verglasten Zimmer rufen. »Grandios!«
    Das Leben im Krankenhaus brummte, trotz der späten Stunde. Auf dem Flur neben der Toilette stand ein Mann in staatlichem Morgenmantel und weißer Strumpfhose, die ihm ständig runterrutschte. »Ich suche seit drei Tagen hier einen Arzt!«, schrie er. »Hat hier jemand einen Arzt gesehen? Ich verblute seit drei Tagen!«
    »Hier ist besetzt!«, antwortete ihm eine Stimme aus der Toilette und spülte demonstrativ laut.
    »Ihr Freund hat einen sehr niedrigen Blutdruck, siebzig zu vierzig, kein Wunder, dass er umgekippt ist«, sagte mir die Schwester.
    Backi bekam vom Notarzt eine große Spritze verpasst und kam frisch wie ein Neugeborener aus dem verglasten Behandlungszimmer. Er schaute sich um und rieb sich dabei unternehmungslustig die Hände.
    »Unglaublich«, wiederholte er, »bin ich etwa voll weggedüst? Wo waren wir stehen geblieben?«
    »Beim langen, glücklichen Leben«, sagte ich.
    »Genau, beim Thailänder! Die Suppe war toll!«
    »Gibt es hier in diesem beschissenen Krankenhaus nirgendwo einen Arzt?«, brüllte die weiße Strumpfhose und schlug gegen die Toilettentür.
    »Besetzt!«, rief die Stimme hinter der Tür noch einmal und fügte hinzu: »Verpiss dich, ich bin kein Arzt!«
    Ich bestellte ein Taxi, und wir fuhren zum Thailänder zurück. Die verständnisvolle Kellnerin hatte nichts weggeschüttet, sie wärmte die Suppe auf und brachte uns neue Biere. Wir tranken auf ein langes, gesundes Leben.
    Ein anderer alter Freund, Anton, mit dem ich vor fünfundzwanzig Jahren in Moskau die Schule geschwänzt hatte und der zu der gleichen Clique wie ich gehört hatte — sie hieß »Drei Kippen« —, hat mich übers Internet gefunden und mir eine Nachricht geschickt: »Hier ist Anton. Habe deine Fresse im germanischen Internet gesehen. Wenn du du bist, schick mir sofort deine Telefonnummer!« Sein Stil war auch nach fünfundzwanzig Jahren unverändert. Ich kam ins Grübeln. Es ist so viel Zeit vergangen. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Er ist ein anderer Mensch geworden, ich bin ein anderer Mensch geworden. Muss man denn die alten Geister quälen? Mit diesem Anton habe ich nur Blödsinn gemacht, zum Beispiel sechsmal den indischen Film Der Rächer gesehen, in dem einem Kerl beide Arme abgehackt wurden, er aber trotzdem nicht aufhörte, seine Feinde zu verfluchen, und dabei
    noch sang und tanzte. Singend
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