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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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Bomben vom Sputnik bewerfen, wie kleine Jungs von einer Autobahnbrücke Steine auf Autos schmeißen!«, jammerte Dickson.
    Die Amerikaner versuchten auf die Schnelle, ihren eigenen Sputnik als Gegenmaßname in den Orbit zu schießen. Die amerikanische Kugel Vanguard 1 war so groß wie eine Apfelsine und hatte einen kurzen Flug. Vanguard 1 flog eine Strecke von genau vierunddreißig Zentimetern, fiel dann zu Boden und explodierte. Die Russen wussten nichts davon, sie hatten inzwischen eine neue Freizeitbeschäftigung gefunden: Sputnik gucken. Nacht für Nacht kletterten die Jugendlichen auf Dächer und starrten in den Himmel. Einer, der nicht mindestens einmal einen fliegenden Stern gesehen hatte, galt als Versager. Die sowjetischen Zeitungen druckten täglich die Laufbahntabellen des Sputniks ab, um zu demonstrieren, wie viele Male unser Kügelchen jede Nacht Amerika überflog. Dort gerieten immer mehr Menschen in Panik.
    »Der nächste Schritt der kommunistischen Invasion wurde bereits bekannt gegeben«, schrieb die New York Times, »China wird kommendes Jahr zwei Offiziere auf den Mars bringen.«
    Der damalige Präsident Eisenhower musste das Volk beruhigen. Er hielt den Sputnik für eine Ente der Sowjetpropaganda. »Die Luftaufnahmen sind gefälscht, alles Russenmärchen«, sagte er in einem Interview. Die amerikanischen Musiker reagierten unterschiedlich. Chuck Berry gab sich gelassen: Er zappelte auf der Bühne in seinem berühm
    ten Gänseschritt und sang: »Russian Sputnik, you can't catch me.« Little Richard bekam dagegen eine echte Krise. Er glaubte, den Sputnik gesehen zu haben, und deutete ihn als ein Gotteszeichen. Er hörte mit dem Trinken auf, verschenkte seine sieben Cadillacs und wurde Bibelverkäufer.
    Die sowjetischen Musiker produzierten damals unzählige Lieder über den Sputnik, über Raketen und die Eroberung des Kosmos. Eine neue Freiheit beflügelte die Menschen. Sie durften zwar nicht nach Amerika, dafür aber vielleicht bald zum Mars. Jeder wollte Kosmonaut werden. Der Staat fing an, die Ersten auszubilden. Die Kugel mit der Inschrift UdSSR flog inzwischen tiefer und tiefer. Die Zeitungen hörten auf, die aktuellen Laufbahntabellen abzudrucken, stattdessen vergrößerten sie das Kreuzworträtsel darunter wieder. Die Hälfte der Bevölkerung hatte Nackenschmerzen vom ständigen Nach-oben-Gucken und kletterte nicht mehr jede Nacht aufs Dach. Nach anderthalb Monaten wurde der Sputnik von unserem Planeten angezogen und verglühte in der Erdatmosphäre. Aus dem Kosmonautentraum wurde für die meisten nichts, es gab einfach zu wenig Raketen. Nur die edlen Zigaretten der Marke Kosmos erinnern heute noch in Russland an die alten Träume, die dann am 12. April 1961 mit dem ersten Menschen im Weltall, Jurij Gagarin, noch einmal lebendig wurden. Jurij stieg zu unserem ersten, ewig jugendlich lächelnden Popstar auf, nachdem er mit seiner Kapsel Wostok eine Stunde und achtundvierzig Minuten lang die Erde umrundet hatte. Noch Jahrzehnte nach seinem Flug wurden tausende Kinder ihm zu Ehren Jurij genannt (Beispiel: mein Kollege Gurzhy). Damals jubelte ihm die ganze Welt zu, die Zukunft der Menschheit sah rosa aus. Der französische Philosoph Emmanuel Levinas schrieb, mit Gagarins Flug sei endgültig das Privileg »der Verwurzelung und des Exils« beseitigt, von nun an würde es diese beiden Daseinsformen auf der Erde nicht mehr geben!
    Die heutigen Kosmonauten von der MIR-Station schwärmen noch immer von dem Gagarin-Rausch, in dem sich seinerzeit die ganze Welt befand. Aber einer gab neulich zerknirscht zu: »Wir haben unser Hauptproblem dort oben nicht gelöst. Wir können zwar seit Gagarin in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben im Weltraum, im Zustand der Schwerelosigkeit keine natürliche
    menschliche Betätigung gefunden. Bis jetzt konnten wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln. Ich empfinde das als persönliches Versagen.« Des ungeachtet werden die einstigen Kosmosträume noch immer gerne besungen, in der postsowjetischen Punkmusik zum Beispiel. Die Band Leningrad widmete dem Thema erst neulich ein Lied, das sofort zum Hit wurde:
    In jedem von uns
    Steckt irgendwas
    Wie ein unendlicher Kosmos,
    Aber zum Fliegen
    Fehlt die Rakete,
    Darum hol das Bier
    Und Zigaretten!
    Kosmos, Kosmos.
    Viele in meiner Generation wollten Kosmonauten werden. Manchmal denke ich, wir waren einfach bescheuert. Eine Landsfrau erzählte mir neulich, sie wohne in Köln
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