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Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)

Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)

Titel: Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)
Autoren: Horst Evers
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Wäre ich du, würde ich mich lieben
    «Kennen Sie dieses Gefühl, wenn Sie die ganze Zeit total müde sind und trotzdem einfach nicht einschlafen können? So erging es mir im Prinzip während der Pubertät mit meiner Sexualität.»
    Die Ärztin schaut mich lange und fragend an.
    «Warum genau haben Sie mir das jetzt erzählt?»
    «Na ja, ich bin nun Mitte vierzig. Die zweite Lebenshälfte beginnt. Es spricht einiges dafür, dass wir in den nächsten Jahren viel Zeit miteinander verbringen werden. Wohl auch manche Gespräche führen. Zudem sind Sie die erste Ärztin, die deutlich jünger ist als ich. Daher wahrscheinlich die letzte Ärztin meines Lebens. Sie werden mich begleiten, wenn das Alter Besitz von mir ergreift. Mich durch lustige Krankheiten und entwürdigende Metamorphosen schiebt. Wenn ich mich an sämtliche Bremer Torschützen des Meisterjahres 1988 erinnere, aber nicht mehr an den Beginn des Satzes, den ich gerade spreche. Wenn die Kraft nachlässt und das Gewebe erschlafft, Schließmuskeln schlampig zu arbeiten beginnen und für große persönliche Enttäuschungen sorgen …»
    «Halt! Halt!», unterbricht sie mich. «Wenn Sie jetzt schon alles verraten, nehmen Sie ja die ganze Spannung raus. Lassen Sie mir und sich selbst doch ein bisschen Vorfreude.»
    «Also gut, natürlich. Ich dachte nur, es wäre vielleicht ganz klug, Ihnen frühzeitig ein wenig von mir zu erzählen. Von meiner Kindheit, meinem Leben. Damit ich Ihnen etwas ans Herz wachse. Damit Sie mich, wenn bei mir Selbstbild und Körperwirklichkeit immer weiter auseinanderklaffen, trotzdem bereitwillig, freundlich und anteilnehmend dorthin begleiten, von wo noch nie ein Mensch zurückgekehrt ist: ins Alter.»
    Die Miene der Medizinerin verzieht sich keine Sekunde.
    «Haben Sie sich das selbst ausgedacht, oder ist das ein Zitat?»
    «Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Ich zitiere häufig aus dem Kopf, und wenn ich dann google, wer das ursprünglich gesagt hat, stelle ich fest: niemand. Niemand hat das bislang gesagt. Wissen Sie, dass es eine Studie gibt, nach der mehr als die Hälfte aller berühmten Zitate gar nicht von den Leuten erdacht wurden, denen sie zugeschrieben werden? Manchmal haben die berühmten Leute diese Sätze sogar nicht einmal gesagt. Also häufiger, als man meint.»
    Sie nickt. «Das kenne ich. Sie würden staunen, wie viele Menschen an Krankheiten leiden, die sie eigentlich gar nicht haben. Manchmal sterben sie sogar daran. Sie sollten nicht so viel über das Alter nachdenken. Aber wenn Sie einen Rat wollen, kann ich Ihnen nur dringend empfehlen, Ihren Körper und alle Veränderungen …»
    «Ich weiß schon, anzunehmen und zu respektieren. Meinen Körper zu mögen, auch wenn es mir schwerfällt. Dieses ganze Zeug.»
    «Nee, mit Mögen kommen Sie da nicht weit. Reicht nicht. Um glimpflich durchs Alter zu kommen, müssen Sie Ihren Körper bedingungslos lieben. Ihm alles vergeben, alles verzeihen, auch wenn er sich noch so enttäuschend verhält. Nur wenn Sie blind vor Liebe sind, wird Ihnen das alles nichts oder zumindest wenig ausmachen.»
    Vor meinem inneren Auge erscheint ein Bild aus der Vergangenheit. Ich kannte mal eine Katja. Mit Anfang zwanzig war ich einige Wochen mit ihr zusammen. Sie war sprunghaft, extrem temperamentvoll und wirklich anstrengend. «Wäre ich du, würde ich mich lieben», hatte sie irgendwann gesagt, «weil sonst hält man das mit mir nicht lange aus.» Das stimmte. Obwohl ich es trotzdem nicht lange ertragen habe, hat mir ihr Rat später oft geholfen. Wenn etwas wirklich nicht mehr auszuhalten ist, hilft nur noch Liebe. Nun soll das also auch noch fürs Altwerden gelten.
    «Ich kenne übrigens teilweise Ihre Bücher», beendet meine neue Ärztin den Vorsorgetermin. «Falls ich darin demnächst vorkommen sollte, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie auf Beschreibungen meiner starken Kurzsichtigkeit verzichten, auch auf Witze darüber und erst recht auf irgendwelche Formulierungen wie ‹ungläubiges Staunen durch dicke Brillengläser› oder so.»
    «Selbstverständlich, vielleicht fängt das nächste Buch sogar mit unserem ersten gemeinsamen Infekt an. Sie werden gut aussehen», verspreche ich ihr und bekomme zur Belohnung einen warmen, liebevollen Blick aus ihren funkelnden grünen Augen.

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    Als ich am Morgen ins Badezimmer komme, stelle ich fest, dass der Spiegel kaputt ist. Das, was er mir als mein Gesicht andrehen will, ist nun wirklich eine bodenlose
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