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Kanadische Traeume

Kanadische Traeume

Titel: Kanadische Traeume
Autoren: Quinn Wilder
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vierundzwanzig Stunden ohne Schlafpause. Sie hatte alles gesehen: Schußwunden, Unfallopfer, zusammengeschlagene Prostituierte, Rauschgiftsüchtige.
    Charity war sechsundzwanzig Jahre alt und hatte doppelt so alt ausgesehen, als sie körperlich und seelisch erschöpft bei ihrer Cousine in Vernon im Okanagan-Tal aufgetaucht war. Sie hatte vorgehabt, ein Wochenende zu bleiben.
    Charity war immer die Gescheite gewesen, die Fleißige, die Studentin in der Familie, die mit genügend Ehrgeiz und Talent, um etwas aus sich zu machen. Sie war mit siebzehn auf die Universität gekommen, hatte das Abitur in nur drei Jahren geschafft und dann ihr Medizinstudium mit einem Stipendium begonnen. Sie hatte sich durch Halbtagsjobs, vier Jahre Medizinstudium und zwei Jahre Praktikum gequält, ohne je an ihrem Traum, ihren Mitmenschen zu helfen, zu zweifeln.
    Als sie auf Mandys grellbuntem Sofa saß, so liebevoll umsorgt von ihrer Cousine, waren ihr die Tränen gekommen, und es wurde ihr bewußt, daß da noch ein winziger anderer Traum tief in ihrem Herzen verborgen war. Sie wollte auch einmal jung sein und sich vergnügen, frei und spontan sein, Abenteuer erleben, die sie in all den Jahren der Arbeit und des Lernens verpaßt hatte. Sie war so in ihrer Arbeit aufgegangen, daß sie nicht einmal einen Freund hatte.
    Ich wünsche mir einen einzigen Sommer, hatte Charity träumerisch zu Mandy gesagt. Am Strand liegen und mich in der Sonne bräunen lassen. Schwimmen, wandern und segeln. Vögel singen hören und die Namen der Pflanzen lernen. Abends tanzen gehen. Unter den Sternen Spazierengehen. An einem Lagerfeuer sitzen und den Mond aufgehen sehen. Würstchen in den Flammen braten, barfuß über den Sand laufen. Musik hören und lesen - zum bloßen Vergnügen!
    Ein einziger strahlender sorgloser Sommer, dann könnte sie sich ihrer Karriere widmen, ohne das Gefühl zu haben, einen Teil ihres Selbst für immer verloren zu haben.
    Mandy, die das Jahr über als Kindergärtnerin arbeitete, hatte schon mehrere Sommer als Freizeitgestalterin in der berühmten Anpetuwi Lodge gearbeitet. Sie arrangierte Spiele und Ausflüge für die Gäste und behauptete, ihre beiden Jobs wären identisch, nur würden sich die Kindergärtler erwachsener benehmen.
    Obwohl Mandy von Anpetuwi wie von einer alternden Dame sprach, die vielverlangend, hoffnungslos altmodisch und kurz vor dem Zerfall stand, wußte Charity, daß ihre Cousine Anpetuwi Lodge heiß liebte. Vielleicht waren Mandys lustige Sommeranekdoten schuld an dem tiefen Gefühl schmerzlichen Verlusts, das Charity zu spüren glaubte.
    Ehe Charity lange darüber nachdenken konnte, verkündete Mandy, sie hätte ihr eine Stelle als Kellnerin in der Susweca Terrassen Lounge ergattert.
    “Wie kann ich da eine Stelle haben?” wollte Charity wissen.
    “Ich habe mich doch gar nicht beworben.”
    “Oh, das ist alles ziemlich leger im Hotel dort”, hatte Mandy erwidert. “Mrs. Forster hat mich wirklich sehr gern. Sie hat bisher schon mehrere Male jemand auf meine Empfehlung hin eingestellt.”
    Charity war immer ihrem gescheiten Kopf gefolgt, und der erinnerte sie jetzt an die enormen Studiendarlehen, die zurückzuzahlen waren. Aber ihr Herz, ihr armes vernachlässigtes Herz, hatte vor Freude gejubelt. Sie würde ihren Sommer haben. Im Herbst konnte sie dann nach Vancouver zurückkehren und stellvertretend für verschiedene Ärzte arbeiten, wenn diese in Urlaub gingen oder Kurse besuchten. Das würde sie so lange tun, bis die Darlehen bezahlt waren und sie daran denken konnte, eine eigene Praxis zu eröffnen.
    Charity wußte im ersten Augenblick, als sie ankamen, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, obwohl es ihr leichtsinnig und kindisch vorkam, so den Sommer zu verbringen, nach den Jahren harter Arbeit, mit denen sie das Recht erworben hatte, den Doktortitel vor ihren Namen zu setzen. Ihr Herz klopfte heftig vor Freude, als sie mit Mandy zum Hotel hinunterspazierte.
    Autos waren auf dem Hotelgelände verboten. Weiter oben gab es einen Parkplatz, von dem sich ein Pfad zum Hotel hinunterwand, durch einen dichten Wald von Zedern und Kiefern, Birken, Wildkirschen,
    Mahonien und
    Heidelbeerbüschen.
    Zu bestimmten Zeiten, erklärte Mandy, holt ein Golf-Elektrowagen das Gepäck vom Parkplatz und brachte manchmal auch gebrechliche Gäste mit.
    Der Weg verlief ein Stück durch schattigen Wald den Berg hinunter. Mit einer letzten Biegung wand er sich aus dem Gehölz heraus, wurde ebener und führte an
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