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Kanadische Traeume

Kanadische Traeume

Titel: Kanadische Traeume
Autoren: Quinn Wilder
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Gesellschaft zu sein. Ihrer Cousine war es schon immer gelungen, ihre unbeschwerte Seite hervorzulocken. In der Tat, sie erinnerte sich, daß Mandy schon seit ihrer Kindheit ein Talent dafür hatte, ihre sonst so brave Cousine in Schwierigkeiten zu bringen.
    Mit diesem Gedanken hätte Charity ihr entschlossen das Fernglas in die Hand drücken sollen. Sie hätte sagen sollen: “Ich weiß nicht, wo du es her hast, aber schaff es bitte weg, ehe jemand sieht, wie sich das Sonnenlicht in den Gläsern spiegelt, und annimmt, daß ich den Gästen nachspioniere.”
    Aber sie tat es nicht. Charity hatte ihr ganzes Leben lang auf diese innere Stimme gehört. Sie hielt sich an die Regeln, war vorsichtig und nie unverantwortlich. Diese Eigenschaften waren nötig für eine Karriere in der Medizin - aber nicht so nötig für einen sorglosen Sommer.
    Mit einem teuflischen Gefühl des Vergnügens, etwas Ungehöriges zu tun, hob sie das Fernglas an die Augen, um einen letzten Blick auf den mysteriösen Gast zu werfen.
    Charity spähte durch das Glas, wandte sich ein wenig nach links. Aha, ja, da waren seine Beine. Sie ließ den Blick langsam mit Genuß an diesem äußerst männlichen Körper hinaufgleiten.
    Und dann…
    Charity piepste wie ein erschrockener Spatz und ließ das Fernglas so plötzlich fallen, daß es schmerzhaft gegen ihren Halsansatz schlug, wo es jetzt vom Riemen baumelte. Sie machte auf dem Absatz kehrt, rannte in die Hütte und versuchte die Tür zuzuschlagen.
    “Was ist denn?” Mandy hätte fast die Tür an die Nase bekommen.
    “Er hat zurückgeschaut!”
    “Er konnte dich unmöglich sehen, du Dummerle.”
    “Er hatte auch ein Fernglas.”
    “Nein!”
    “Leider ja”, sagte Charity niedergeschlagen. Warum wurde sie jedesmal ertappt, wenn sie auch nur das kleinste Unrecht tat?
    Und warum passierte das immer, wenn sie mit Mandy zusammen war?
    “Hat er interessiert ausgesehen?” erkundigte sich Mandy unbekümmert.
    “Interessiert? Mandy, ich habe ein Handtuch um den Kopf.
    Wenn du es unbedingt wissen mußt, er sah wütend aus.”
    “Vermutlich erkennt er dich ohne das Handtuch gar nicht wieder.”
    “Vermutlich beklagt er sich über mich, und das ist das Ende meines idealen Sommers.”
    “Ach was, Männer und Frauen beäugen sich seit Urzeiten.”
    “Durchs Fernglas?”
    “Du bist zu ernst, Char. Du stellst dir immer das Schlimmste vor. Vielleicht erzählst du eines Tages deinen Enkelkindern: ,Ja, als ich euren Großvater zum erstenmal sah, blickte ich durch einen Feldstecher. Er saß auf dem Balkon von Zimmer 302 in der Anpetuwi Lodge und spie Feuer.’”
    “Mandy, du bist unverbesserlich.” Aber Mandys dramatische Darstellung, komplett mit zittriger Greisenstimme, zauberte langsam ein Lächeln auf Charitys Lippen. “Was sage ich nur, wenn ich ihm begegne? Soll ich mich entschuldigen?”
    “Auf keinen Fall! Ich habe eine Lizenz, hier durch zu sehen.”
    Mandy klopfte vergnügt auf das Fernglas. “In nur vier Tagen werde ich die erste Vogelbeobachtungsexpedition leiten. Du kannst ihm sagen, ich hätte dir den Whiskey Jack, der sich auf seinem Balkon niedergelassen hatte, gezeigt, falls er die schlechten Manieren haben sollte, das Thema anzuschneiden.”
    “Den Whiskey was?”
    “Eine Vogelart, kein Getränk”, erklärte Mandy kichernd.
    “Die kleinen Diebe sind sehr häufig in dieser Gegend und kein bißchen menschenscheu.”
    “Mit anderen Worten, eine gute Ausrede, um auf fremde Balkone zu starren. Ich schäme mich, Mandy, und hoffe, du tust es auch.”
    “Kommt gar nicht in Frage”, sagte Mandy.
    “Mandy, ich habe dich furchtbar gern. Du bist meine beste Freundin auf der Welt. Du hast mir diesen Sommerjob im Paradies verschafft, gerade als mir mein Leben ganz höllisch vorkam. Du hast mir Kontaktlinsen, sechs Sommerkleider und einen Bikini aufgeschwatzt, hast meine Frisur und meine Haarfarbe verändert. Aber irgendwie bleibt mir ein nagendes Gefühl, ob ich mit dir als Zimmergenossin den Sommer überstehen werde, ohne den Verstand zu verlieren.”
    “Ha, du lernst möglicherweise, wie man sich vergnügt. Wäre das nicht schrecklich? Außerdem, was wäre dein einmaliger strahlender Sommer schon ohne ein paar interessante Männergeschichten?”
    Charity wandte den Blick wieder der Aussicht zu. Ihr einmaliger strahlender Sommer!
    Vor zwei Wochen hatte sie ihr Medizinpraktikum im St.
    Pauls Hospital in Vancouver beendet. Zuletzt hatte sie auf der Rettungsstation gearbeitet, manchmal
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