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Kanadische Traeume

Kanadische Traeume

Titel: Kanadische Traeume
Autoren: Quinn Wilder
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Entfernung. Charity vermochte leicht die Breite seiner Schultern unter der maßgeschneiderten weißen Sporthemd zu erkennen.
    Frischgebügelte kurze Khakishorts brachten seine langen muskulösen Beine voll zur Geltung. Er war tief gebräunt und hatte lockiges dunkles Haar, das in der spätnachmittäglichen Sonne glänzte. Zu weit entfernt, um sein Gesicht genau zu erkennen, hatte Charity auch hier den Eindruck von Kraft, Kühle und Gelassenheit.
    Er rückte sich auf dem Stuhl zurecht. Seine Bewegungen waren geschmeidig und ließen das Spiel seiner Muskeln an Armen und Beinen sehen. Er strahlte eine raubtierhafte Spannung aus, die Wachsamkeit signalisierte, auch wenn er jetzt ganz still saß.
    Jetzt machte es Charity noch nervöser, daß Mandy ungeniert weiter das Fernglas auf ihn gerichtet hielt. Obwohl sie ihre neugierige Cousine in keiner Weise ermuntern wollte, hörte sie sich wie beiläufig fragen: “Was ist so mysteriös an ihm?”
    “Daß er hier ist.”
    “Wieso denn?”
    “Für die ganze Saison. Das Hotel ist erst ab morgen offiziell geöffnet.”
    “Woher weißt du denn eigentlich, daß er den ganzen Sommer da ist?”
    “Ich halte es für meine Aufgabe, alles über alle zu wissen”, sagte Mandy geistesabwesend. “Ich prüfe die Anmeldungen, damit ich ungefähr weiß, was ich für die wöchentliche Freizeitgestaltung zu planen habe. Haben wir den Altenklub oder Familien? Wann kommen die Stammgäste, und was mochten sie letztes Jahr? Und da taucht plötzlich dieser Mensch in Zimmer 302 auf und ist für all diese Wochen als Gast eingetragen. Seltsam!”
    “Ich finde es nicht so seltsam”, meinte Charity.
    Mandy seufzte und drückte Charity den Feldstecher in die Hand. “Hier, schau ihn dir mal an.”
    “Auf keinen Fall!” Charity versuchte, das Fernglas wegzustoßen.
    “Schön, aber ein Blick würde dir sagen, daß Männer wie er gewöhnlich ihre Ferien nicht an Plätzen wie diesen verbringen.”
    “Aber es ist doch ein weltberühmter Kurort”, protestierte Charity. Irgendwie fand das verflixte Fernglas nun doch seinen Weg zu ihren Augen. Sie drehte am Einstellungsregler herum.
    “Anpetuwi ist ein weltberühmter Kurort, der gewöhnlich von Greisen, Flitterwöchnern und jungen Familien bevorzugt wird.
    Junggesellen strömen nicht gerade hierher. Nicht, wenn es den Club Med in derselben Preislage gibt. Außerdem sind zwei Wochen ländlichen Charmes so ungefähr die Grenze für die meisten Leute. Was sucht ein Mann wie er hier? Und die ganze Saison?”
    Als wollte es Charity helfen, Mandys Frage zu beantworten, war das Fernglas plötzlich perfekt eingestellt.
    Das Gesicht des Mannes war von markanter Schönheit. Die Wangenknochen waren hoch, die Nase gerade wie ein Pfeil, das Kinn stark, der Mund breit und sinnlich. Der Fremde runzelte die dichten Augenbrauen, während er las, und vermittelte Charity wiederum den Eindruck von Stärke, aber auch von Bedrohung und Kälte. Es fiel ihr schwer, sein Alter zu schätzen, aber der Ausdruck unverfrorener Macht, der auf seinen Zügen lag, konnte nur von vielen Jahren Erfahrung stammen. Sie schätzte ihn auf Ende Dreißig, höchstens vierzig.
    Charity wollte gerade das Fernglas weglegen, als er von der Zeitung hochblickte. Seine Augen waren sagenhaft dunkelblau, wie neuer Jeansstoff oder Saphire. Und hart blickten sie, glitzerten kühl-spöttisch, funkelten gefährlich. Mandy hatte recht. Er sah nicht aus wie jemand, der dreieinhalb Monate Ferien machte, an einem Ort, an dem Vogelbeobachtung ganz oben auf der Vergnügungsliste stand.
    “Was denkst du?” fragte Mandy.
    Charity ließ schuldbewußt das Fernglas sinken. “Ein Fremdenlegionär, für den man ein Kopfgeld ausgesetzt hat”, sagte sie, nur halb im Scherz.
    “Nicht schlecht”, meinte Mandy anerkennend. “Ich dachte, vielleicht ein Mafia-Don, der gegen seine Familie ausgesagt hat.”
    “Auch nicht schlecht, aber er hat leider die sagenhaftesten blauen Augen, die ich je gesehen habe.”
    “Hat er das?” erwiderte Mandy. “Dabei habe ich immer geglaubt, du hättest die sagenhaftesten blauen Augen.”
    “Wie Tag und Nacht. Meine sind ganz gewöhnlich und alltäglich. Seine sind dunkel… wie dort, wo das Wasser der Bucht sich mit dem See vereint.”
    Mandy warf ihr einen bewundernden Blick wegen ihrer Beobachtungsgabe zu. “Ich glaube, Italiener können auch blaue Augen haben.”
    “Nur rabenschwarze bei Mafia-Dons”, bestimmte Charity. Es wurde ihr bewußt, wie gut es ihr tat, in Mandys
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