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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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Der unzureichende Lampenschirm

    Eines Nachts – sie war vier und schlief in der unteren Koje ihres Stockbettes – wachte Ruth Cole von leidenschaftlichem Stöhnen auf, das aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern kam. Ruth hatte noch nie solche Geräusche gehört. Vor kurzem hatte sie eine Magengrippe gehabt, und als sie ihre Mutter das erste Mal mit einem Mann im Bett hörte, glaubte sie, diese würde sich erbrechen.
    Ihre Eltern hatten nicht einfach getrennte Schlafzimmer; in diesem Sommer wohnten sie sogar getrennt, auch wenn Ruth das andere Haus nie zu Gesicht bekam. Ihr Vater und ihre Mutter übernachteten abwechselnd bei ihr zu Hause, und in der Nähe hatten sie ein Ausweichquartier gemietet, in dem sich jeweils der Elternteil aufhielt, der nicht bei Ruth war. Es handelte sich um eines jener unsinnigen Arrangements von Ehepaaren, die sich trennen wollen, aber noch nicht geschieden sind, und die sich einreden, mit etwas gutem Willen statt gegenseitiger Schuldzuweisungen müsse es doch möglich sein, sich Kinder und Eigentum zu teilen.
    Als Ruth beim Aufwachen diese fremdartigen Geräusche hörte, war sie zunächst nicht sicher, wer sich erbrach, ihre Mutter oder ihr Vater; dann erkannte sie, trotz der ungewohnten Störung, den vertrauten melancholischen und leicht hysterischen Unterton, der häufig in der Stimme ihrer Mutter mitschwang. Außerdem fiel ihr ein, daß heute ihre Mutter bei ihr übernachtete.
    Das große Bad lag zwischen Ruths Zimmer und dem Elternschlafzimmer, und als die Vierjährige barfuß hindurchtappte, nahm sie ein Handtuch mit. (Als sie ihre Magengrippe hatte, sagte ihr Vater, sie solle in ein Handtuch spucken.) Arme Mummy! dachte Ruth, als sie das Handtuch mitnahm.
    Im matten Mondlicht und bei dem noch matteren, diffusen Schein des Nachtlichts, das ihr Vater im Bad angebracht hatte, sah Ruth die bleichen Gesichter ihrer toten Brüder auf den Fotos an der Badezimmerwand. Überall im Haus, an sämtlichen Wänden, hingen Fotos von ihren toten Brüdern; obwohl die beiden Jungen als Teenager ums Leben gekommen waren, noch bevor Ruth geboren (ja noch ehe sie gezeugt) wurde, hatte sie das Gefühl, sie weit besser zu kennen als ihre Mutter oder ihren Vater.
    Der große Dunkelhaarige mit dem kantigen Gesicht war Thomas. Schon mit vier hatte er die Ausstrahlung eines Stars – eine Mischung aus Unbekümmertheit und Draufgängertum, die ihn später viel selbstbewußter erscheinen ließ, als es einem Teenager entsprach. (Thomas hatte am Steuer des Unglückswagens gesessen.)
    Der unsicher blickende Jüngere war Timothy; noch als Teenager hatte er ein Babygesicht und wirkte immer irgendwie verwundert. Es war, als hätte ihn der Fotograf stets in einem Moment der Unschlüssigkeit erwischt, in dem er zögerte, ein halsbrecherisches Kunststück nachzumachen, das Thomas mit Bravour gemeistert hatte. (Letzten Endes hatte Thomas nicht einmal etwas so Elementares gemeistert wie Autofahren.)
    Als die kleine Ruth das Schlafzimmer ihrer Eltern betrat, sah sie den nackten jungen Mann, der ihre Mutter von hinten bestiegen hatte; er hielt ihre Brüste umfaßt und bumste sie auf allen vieren, wie ein Hund, doch weder das Gewaltsame noch das Widerwärtige an diesem Akt waren der Grund dafür, daß Ruth aufschrie. Mit ihren vier Jahren wußte sie weder, daß sie einen Sexualakt miterlebte, noch empfand sie die Betätigung des jungen Mannes und ihrer Mutter als wirklich anwidernd. Vielmehr war sie erleichtert, als sie feststellte, daß ihre Mutter sich nicht erbrechen mußte.
    Auch daß der junge Mann nackt war, war nicht der Grund, weshalb Ruth aufschrie; sie hatte ihren Vater und ihre Mutter oft nackt gesehen – bei den Coles war Nacktheit kein Grund, sich zu genieren. Schuld war der junge Mann, denn Ruth war überzeugt, einen ihrer toten Brüder vor sich zu haben; er sah Thomas, dem Selbstbewußten, so ähnlich, daß sie ein Gespenst zu sehen glaubte.
    Der Schrei einer Vierjährigen ist durchdringend. Ruth war erstaunt, wie blitzschnell der junge Liebhaber ihrer Mutter abstieg; er entfernte sich mit derart panischer Hast von Frau und Bett, daß es fast so aussah, als wäre er abgeschossen worden. Er stolperte über das Nachtkästchen, und um seine Blöße zu bedecken, riß er den Lampenschirm von der zu Bruch gegangenen Nachttischlampe. In dieser Aufmachung empfand Ruth ihn als weniger bedrohlich als ein Gespenst, für das sie ihn zunächst gehalten hatte; und als sie ihn genauer betrachtete, erkannte sie ihn auch. Es
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