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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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Marion.
    »Graham«, sagte Eddie.
    »Ja, natürlich, Graham.« Auf Marions noch immer makelloses Gesicht, klassisch ebenmäßig wie das Gesicht einer antiken Statue, trat unvorstellbare Trauer. Eddie kannte das Foto, an das sie vermutlich dachte. Timothy mit vier, an dem mit den Resten des Thanksgiving-Dinners übersäten Tisch, in der Hand einen unangebissenen Truthahnschlegel, den er mißtrauisch beäugt, so wie Graham vor vier Tagen den gebratenen Truthahn beäugt hatte, den Harry auftrug.
    In Timothys unschuldigem Blick deutete nichts auch nur im entferntesten darauf hin, daß er nur elf Jahre später ums Leben kommen sollte – und erst recht nicht, daß er kurz vor seinem Tod von seinem Bein getrennt werden würde, das seine Mutter erst entdeckte, als sie den Schuh ihres toten Sohnes aufheben wollte.
    »Komm schon, Marion«, flüsterte Eddie. »Es ist kalt hier draußen. Laß uns reingehen und alle begrüßen.«
    Eddie winkte Harry, der sofort zurückwinkte. Dann zögerte der Holländer. Natürlich erkannte er Marion nicht, hatte aber schon viel von Eddies Vorliebe für ältere Frauen gehört. Ruth hatte ihm davon erzählt. Außerdem hatte er alle seine Bücher gelesen. Und so winkte er vorsichtshalber auch der älteren Frau an Eddies Arm zu.
    »Ich habe einen Käufer für das Haus mitgebracht!« rief Eddie ihm zu. »Einen ernsthaft interessierten Käufer!«
    Das ließ den ehemaligen Sergeant Hoekstra aufhorchen. Er schlug seine Axt in den Hackstock, damit Graham sich nicht daran verletzen konnte. Dann hob er den Spaltkeil auf, der ebenfalls scharf war, denn auch daran sollte sich Graham nicht verletzen. Den Holzhammer ließ er auf dem Boden liegen. Er war so schwer, daß der Vierjährige ihn kaum heben konnte.
    Eddie und Marion gingen schon ins Haus, ohne auf Harry zu warten.
    »Hallo? Ich bin es!« rief Eddie, als er in die Diele trat.
    Marion betrachtete Teds Werkstatt mit neu erwachtem Interesse – genauer gesagt, mit einer Begeisterung, von der sie selbst nichts geahnt hatte. Doch als erstes fielen ihr die leeren Wände in der Diele auf; Eddie war klar, daß sie sich bestimmt an sämtliche Fotos erinnerte, die früher hier gehangen hatten. Jetzt hingen hier keine Fotos mehr, auch keine Bilderhaken, gar nichts. Marion sah auch die aufgestapelten Umzugskartons; ähnlich mußte das Haus ausgesehen haben, als sie zum letztenmal hier gewesen war, in Gegenwart ihrer Möbelpacker.
    »Hallo!« hörten sie Ruth aus der Küche rufen.
    Dann kam Graham angelaufen, um sie zu begrüßen. Sicher war es schlimm für Marion, Graham kennenzulernen, aber Eddie fand, daß sie ihre Sache gut machte. »Du mußt Graham sein«, sagte Marion. Der Junge war Fremden gegenüber schüchtern; er ging schräg hinter Eddie in Deckung. Ihn kannte er wenigstens.
    »Das ist deine Großmutter, Graham«, erklärte Eddie dem Jungen.
    Marion streckte ihm die Hand entgegen. Graham nahm sie übertrieben formell. Eddie ließ Marion nicht aus den Augen; sie mußte sich sichtlich zusammennehmen.
    Graham hatte bedauerlicherweise nie Großeltern erlebt. Was er über Großmütter wußte, wußte er aus Büchern, und in Büchern waren die Großmütter immer sehr alt. »Bist du sehr alt?« fragte er seine Großmutter.
    »Aber ja, sicher bin ich das!« sagte Marion. »Ich bin sechsundsiebzig!«
    »Weißt du, was?« fragte Graham. »Ich bin erst vier, aber ich wiege schon über fünfzehn Kilo.«
    »Meine Güte!« sagte Marion. »Ich habe einmal viermal soviel gewogen, aber das ist schon eine Weile her. Inzwischen habe ich ein wenig Gewicht verloren …«
    Hinter ihnen ging die Haustür auf, und Harry stand schwitzend im Eingang, in der Hand seinen geliebten Spaltkeil. Eddie wollte ihn mit Marion bekannt machen, aber plötzlich stand Ruth am anderen Ende der Diele in der Küchentür. Sie hatte sich gerade die Haare gewaschen. »Hi!« sagte sie zu Eddie. Dann sah sie ihre Mutter.
    Von der Haustür aus sagte Harry: »Es ist ein Käufer für das Haus. Ein ernsthaft interessierter Käufer.« Aber Ruth hörte ihn gar nicht.
    »Hallo, Schätzchen«, sagte Marion zu Ruth.
    »Mummy …« Mehr brachte Ruth nicht heraus.
    Graham lief zu seiner Mutter. Er war noch in dem Alter, in dem Kinder sich an ihre Mütter klammern, und Ruth beugte sich instinktiv hinunter, um ihn auf den Arm zu nehmen. Aber ihr ganzer Körper sperrte sich dagegen; sie hatte einfach nicht die Kraft, ihn hochzuheben. Sie legte ihm eine Hand auf die schmale Schulter, und mit dem Handrücken der
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