Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
über; Gehsteige gibt es nicht. Und an diesem Novemberabend gibt es auch keinen Verkehr. Dichter Verkehr herrscht auf der Maple Lane ohnehin nur selten und vor allem nie lange, weil Bridgehampton von erstaunlich wenigen Personenzügen angefahren wird – uralten, verrußten Ungetümen, bei denen die Fahrgäste wie in alten Zeiten beim Aussteigen die verrosteten Trittstufen am Ende der Waggons hinunterklettern müssen.
    Ruth Cole und die meisten Leute in ihrer Einkommenskategorie, die zwischen hier und New York hin und her pendelten, fuhren nie mit dem Zug, sondern lieber mit den kleinen Bussen. Auch Eddie nahm für gewöhnlich den Bus, obwohl er eindeutig nicht in Ruths Einkommenskategorie gehörte.
    In Bridgehampton erwartete nicht einmal ein halbes Dutzend Taxis die Ankunft der wenigen Züge, bei denen man annehmen durfte, daß mehr als nur ein oder zwei Fahrgäste aussteigen – zum Beispiel den Cannonball Express am Freitagabend, der um 16 Uhr 01 von der Penn Station abfährt und pünktlich um 18 Uhr 07 ankommt. Im allgemeinen ist das westliche Ende der Maple Lane eine schmuddelige, triste und verlassene Gegend. Die Autos und Taxis, die kurz nach der Ankunft eines Zuges die Maple Lane nach Osten oder die Corwith Avenue nach Süden fahren, scheinen es sehr eilig zu haben, von hier wegzukommen.
    Ist es da ein Wunder, daß auch Eddie von hier wegwollte?
    An keinem Sonntagabend im Jahr sind die Hamptons so einsam und verlassen wie am Ende des langen Thanksgiving-Wochenendes. Selbst Harry Hoekstra, der allen Grund hatte, glücklich zu sein, konnte diese Einsamkeit deutlich spüren. Um Viertel nach elf Uhr abends widmete er sich einer neuentdeckten Lieblingsbeschäftigung: Der pensionierte Polizeibeamte pinkelte auf den Rasen hinter Ruths Haus. Früher im Rotlichtbezirk hatte er öfter Straßendirnen und Drogensüchtige auf die Straße pinkeln sehen; doch ehe er die Wälder und Felder von Vermont und den Rasen auf Long Island kennenlernte, hatte Harry nicht gewußt, was für ein herrlich befriedigendes Gefühl es sein konnte, im Freien zu urinieren.
    »Pinkelst du wieder draußen, Harry?« rief Ruth.
    »Ich sehe mir die Sterne an«, behauptete Harry.
    Es war kein Stern zu sehen. Obwohl es endlich zu regnen aufgehört hatte, war der Himmel schwarz, und die Luft hatte sich deutlich abgekühlt. Das Gewitter war aufs Meer hinausgezogen, aber es wehte ein kräftiger Nordwest; egal, welches Wetter er bringen würde – der Himmel jedenfalls war bewölkt. Es war eine trübe Nacht, wie immer man es betrachtete. Der schwache Schimmer am nördlichen Horizont stammte von den Scheinwerfern der Autos, die die wenigen New Yorker, die nicht längst abgefahren waren, in die Stadt zurückbrachten. Dafür, daß es Sonntagabend war, herrschte auf dem Montauk Highway selbst in Richtung Westen erstaunlich wenig Verkehr. Wegen des schlechten Wetters waren die meisten Leute früh nach Hause gefahren. Regen ist der beste Polizist, rief Harry sich ins Gedächtnis.
    Und dann ertönte das melancholische Pfeifen einer Lokomotive. Es kündigte den 23-Uhr-17 in Richtung Osten an, den letzten Zug an diesem Abend. Fröstelnd ging Harry wieder ins Haus.
    Wegen dieses 23-Uhr-17 war Eddie noch nicht zu Bett gegangen; er hatte ihn abgewartet, weil es ihm unerträglich war, wach in seinem wackelnden Bett zu liegen, wenn der Zug ankam und dann wieder abfuhr. Eddie ging immer erst nach dem 23-Uhr-17 ins Bett.
    Da es aufgehört hatte zu regnen, hatte sich Eddie warm angezogen und war auf die Veranda hinausgegangen. Die Ankunft des 23-Uhr-17 erregte die übeltönende Aufmerksamkeit der Hunde in der Umgebung, aber kein einziges Auto fuhr vorbei. Wer würde am Ende des Thanksgiving-Wochenendes schon einen Zug in die Hamptons nehmen? Kein Mensch, dachte Eddie, obwohl er einen Wagen vom Parkplatz am westlichen Ende der Maple Lane wegfahren hörte; er fuhr in Richtung Butter Lane, so daß er nicht an Eddies Haus vorbeikam.
    Eddie, der noch immer in der Kälte auf seiner Veranda stand, horchte auf den abfahrenden Zug. Nachdem das Hundegebell verstummt und auch der Zug nicht mehr zu hören war, versuchte er, die kurze Stille zu genießen, die ungewohnte Ruhe.
    Der Nordwestwind brachte eindeutig den Winter. Er blies kalte Luft über das wärmere Wasser in den Pfützen, die die Maple Lane sprenkelten. Aus dem Dunst, der daraus aufstieg, hörte Eddie plötzlich das Geräusch von Rädern, die jedoch so leise waren, als gehörten sie zu einem Spielzeugauto; dennoch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher