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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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war der junge Mann, der das hinterste Gästezimmer belegt hatte, der, der den Wagen ihres Vaters fuhr; er arbeitete für ihren Daddy, wie ihre Mummy ihr erklärt hatte. Ein- oder zweimal hatte er Ruth und ihre Babysitterin zum Strand gefahren.
    In diesem Sommer hatte Ruth drei verschiedene Kindermädchen; alle drei hatten sich darüber ausgelassen, wie blaß der junge Mann sei, doch Ruths Mutter hatte ihr klargemacht, daß manche Menschen einfach keine Sonne mögen. Natürlich hatte Ruth den jungen Mann noch nie unbekleidet gesehen, aber sie war ganz sicher, daß er Eddie hieß und garantiert kein Gespenst war. Trotzdem schrie sie noch einmal.
    Ihre Mutter, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte, schien, typisch für sie, keineswegs überrascht; sie betrachtete ihre Tochter lediglich mit einer Miene, die zu besagen schien: Komm, laß es, und die etwas entnervt wirkte. Bevor Ruth ein drittes Mal schreien konnte, sagte ihre Mutter: »Schrei nicht, Schätzchen. Wir sind es nur, Eddie und ich. Geh wieder in dein Bettchen.«
    Ruth tat wie geheißen und tappte wieder an den vielen Fotos vorbei, die ihr jetzt gespenstischer vorkamen als das entzauberte Gespenst des mütterlichen Liebhabers. Als Eddie versucht hatte, sich mit dem Lampenschirm zu bedecken, war ihm völlig entgangen, daß dieser, da er an beiden Enden offen war, Ruth einen ungehinderten Blick auf seinen schrumpfenden Penis gewährte.
    Mit vier Jahren war Ruth noch zu jung, um sich in allen Einzelheiten an Eddie oder seinen Penis zu erinnern, aber Eddie behielt Ruth sehr wohl in Erinnerung. Sechsunddreißig Jahre später, als er zweiundfünfzig war und Ruth vierzig, sollte sich dieser unglückselige junge Mann in Ruth Cole verlieben. Doch auch dann bereute er es nicht, Ruths Mutter gevögelt zu haben. Aber das war Eddies Problem. Und das hier ist die Geschichte von Ruth Cole.
    Daß ihre Eltern eigentlich mit einem dritten Sohn gerechnet hatten, war nicht ausschlaggebend dafür, daß Ruth Schriftstellerin wurde; sehr viel wahrscheinlicher wurde ihre Phantasie dadurch angeregt, daß sie in einem Haus aufwuchs, in dem die Fotografien ihrer toten Brüder stärker präsent waren, als man das von ihrer Mutter und ihrem Vater behaupten konnte; und nachdem ihre Mutter sie und ihren Vater verlassen (und nahezu alle Fotos von ihren Söhnen mitgenommen) hatte, fragte sich Ruth natürlich, warum ihr Vater die Bilderhaken in den kahlen Wänden steckenließ. Diese Bilderhaken waren mit dafür verantwortlich, daß Ruth Schriftstellerin wurde, denn nachdem ihre Mutter weggegangen war, versuchte sie sich noch jahrelang zu erinnern, welche Fotos an welchen Haken gehangen hatten. Und da sie sich die konkreten Fotos ihrer toten Brüder nicht in befriedigendem Umfang ins Gedächtnis zu rufen vermochte, ging sie dazu über, sämtliche Momente aus dem kurzen Leben ihrer Brüder, die sie selbst ja nicht miterlebt hatte, neu zu erfinden. Daß Thomas und Timothy ums Leben gekommen waren, noch bevor Ruth geboren wurde, war ebenfalls ein Grund, weshalb Ruth Schriftstellerin wurde; so weit sie zurückdenken konnte, hatte sie sich die beiden immer vorstellen müssen.
    Es war einer jener Autounfälle, bei denen sich im nachhinein herausstellt, daß die verunglückten Teenager »brave Jungs« gewesen waren und nichts getrunken hatten. Am schlimmsten und unerträglich qualvoll für die Eltern war, daß Thomas und Timothy nur durch Zufall ausgerechnet an diesem Abend vorn saßen, weil ihre Eltern sich, völlig überflüssigerweise, gezankt hatten. Die armen Eltern sollten die tragische Folge ihres banalen Streits bis ans Ende ihrer Tage immer wieder durchleben.
    Später erfuhr Ruth, daß sie in guter Absicht, aber ohne jede Leidenschaft gezeugt worden war. Ihre Eltern irrten sich, wenn sie glaubten, ihre Söhne ersetzen zu können, und sie dachten nicht weit genug, um sich klarzumachen, daß das neue Baby, das die Last ihrer unerfüllbaren Erwartungen zu tragen haben würde, ein Mädchen sein könnte.
    Daß Ruth Cole zu jener seltenen Mischung aus hochangesehener literarischer Schriftstellerin und internationaler Bestsellerautorin heranwuchs, ist weniger bemerkenswert als die Tatsache, daß es ihr überhaupt gelang, heranzuwachsen. Die beiden gutaussehenden jungen Männer auf den Fotos hatten so gut wie alles mitgenommen, was Ruths Mutter an Mutterliebe besaß. Und doch konnte Ruth die ablehnende Haltung ihrer Mutter noch eher ertragen als die Kälte, die zwischen ihren Eltern herrschte und in
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