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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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Dann hörte es abrupt auf. Es war ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen.
    »Daddy!« flüsterte Ruth. Diesmal wußte sie sofort, daß ihr Vater in dieser Nacht bei ihr im Haus war, hatte aber so leise geflüstert, daß sie ihre eigene Stimme nicht hören konnte. Außerdem schlief Ted Cole wie ein Stein. Wie die meisten Leute, die kräftig trinken, schlief er nicht sanft ein, sondern fiel in eine Art Bewußtlosigkeit – mindestens bis vier oder fünf Uhr morgens, und dann konnte er nicht mehr einschlafen.
    Ruth kroch aus ihrem Bett und ging auf Zehenspitzen durch das große Bad ins Elternschlafzimmer, wo ihr Vater lag und nach Whiskey oder Gin roch – so intensiv wie ein Wagen in einer geschlossenen Garage nach Motoröl und Benzin.
    »Daddy!« wiederholte sie. »Ich hab was geträumt. Ich habe ein Geräusch gehört.«
    »Was für ein Geräusch denn, Ruthie?« fragte ihr Vater; er hatte sich nicht gerührt, war aber wach.
    »Es ist ins Haus gekommen«, sagte Ruth.
    »Das Geräusch?«
    »Es ist im Haus, aber es versucht, ganz leise zu sein«, erklärte Ruth.
    »Dann wollen wir es mal suchen«, schlug ihr Vater vor. »Ein Geräusch, das versucht, ganz leise zu sein. Das muß ich sehen.«
    Er nahm sie auf den Arm und trug sie auf den langen Gang hinaus. In diesem Gang im ersten Stock hingen mehr Fotografien von Thomas und Timothy als in irgendeinem anderen Teil des Hauses, und als Ted das Flurlicht einschaltete, schienen Ruths tote Brüder um ihre Aufmerksamkeit zu betteln – wie ein Spalier von Prinzen, die um die Gunst einer Prinzessin buhlen.
    »Wo bist du, Geräusch?« rief Ted.
    »Schau in den Gästezimmern nach«, sagte Ruth.
    Ihr Vater trug sie bis ans Ende des Ganges, wo sich drei Gästezimmer und zwei Gästebäder befanden – auch sie voller Fotografien. Sie machten alle Lichter an und spähten in alle Schränke und hinter die Duschvorhänge.
    »Komm heraus, Geräusch!« befahl Ted.
    »Komm heraus, Geräusch!« wiederholte Ruth.
    »Vielleicht ist es unten«, meinte ihr Vater.
    »Nein, es war hier oben bei uns«, erklärte Ruth.
    »Dann ist es wohl verschwunden, denke ich«, sagte Ted. »Wie hat es sich denn angehört?«
    »Es war ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen«, sagte Ruth.
    Ted setzte sie auf einem Gästebett ab und griff zu Block und Stift, die auf dem Nachttischchen lagen. Was Ruth gerade gesagt hatte, gefiel ihm so gut, daß er es unbedingt aufschreiben wollte. Aber er hatte keinen Schlafanzug an und folglich auch keine Tasche, in die er den Zettel hätte stecken können; und so klemmte er ihn zwischen die Zähne, als er Ruth wieder auf den Arm nahm. Wie üblich, interessierte es sie nur flüchtig, daß er nackt war. »Dein Pimmel sieht aber komisch aus«, sagte sie.
    »Mein Pimmel sieht wirklich komisch aus«, pflichtete Ted ihr bei. Das sagte er jedesmal. Mit dem Blatt Papier zwischen den Zähnen hörte sich seine lässige Bemerkung noch lässiger an als sonst.
    »Wo ist das Geräusch hingegangen?« wollte Ruth wissen. Ihr Vater trug sie durch die Gästeschlafzimmer und die Gästebäder, machte die Lichter aus, doch dann blieb er im zweiten Bad so abrupt stehen, daß es Ruth vorkam, als hätten sich Thomas und Timothy oder auch nur einer von beiden aus einem Foto gebeugt und ihn festgehalten.
    »Ich werde dir eine Geschichte von einem Geräusch erzählen«, sagte ihr Vater; zwischen seinen Zähnen flatterte der Zettel. Er setzte sich mit Ruth auf dem Arm auf den Rand der Badewanne.
    Auf dem Foto, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, war Thomas vier, genauso alt wie Ruth. Die Aufnahme wirkte sehr steif und gestellt: Thomas thronte auf einem großen, mit einem wirren Blumenmuster bezogenen Sofa; Timothy, dem es mit seinen zwei Jahren offenbar nicht behagte, auf Thomas’ Schoß sitzen zu müssen, schien von dem floralen Wildwuchs völlig überwältigt. Das Foto mußte 1940 aufgenommen worden sein, zwei Jahre bevor Eddie O’Hare geboren wurde.
    »Eines Nachts, als Thomas so alt war wie du und Timothy noch in den Windeln steckte, hörte Thomas ein Geräusch«, begann Ted. Ruth sollte sich immer daran erinnern, daß ihr Vater an dieser Stelle den Zettel aus dem Mund nahm.
    »Sind alle beide aufgewacht?« fragte sie, ohne das Foto aus den Augen zu lassen.
    Und so kam diese denkwürdige alte Geschichte in Gang; Ted Cole kannte sie von der ersten Zeile an auswendig.
    »Tom wachte auf, Tim aber nicht.«
    Ruth schauderte auf dem Arm ihres Vaters.
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