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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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heißt, daß Thomas und Timothy in deiner Vorstellung leben«, erklärte ihr Vater. »Wenn ein Mensch stirbt, wenn sein Körper kaputt ist, bedeutet das nur, daß wir seinen Körper nicht mehr sehen können; sein Körper ist nicht mehr da.«
    »Er ist unter der Erde«, verbesserte ihn Ruth.
    »Wir können Thomas und Timothy zwar nicht mehr sehen«, fuhr ihr Vater beharrlich fort, »aber aus unseren Gedanken sind sie nicht verschwunden. Wenn wir an sie denken, sehen wir sie vor uns.«
    »Dann sind sie nur aus unserer Welt verschwunden?« sagte Ruth. (Sie sprach weitgehend nach, was sie vorher gehört hatte.) »Und sie sind in einer anderen Welt?«
    »Ja, Ruthie.«
    »Werde ich auch tot?« fragte die Vierjährige. »Werde ich auch ganz kaputt?«
    »Bis dahin dauert es noch sehr, sehr lange!« sagte ihr Vater. »Ich gehe vor dir kaputt, und selbst ich gehe noch sehr, sehr lange nicht kaputt.«
    »Noch sehr, sehr lange nicht?« wiederholte Ruth.
    »Das verspreche ich dir, Ruthie.«
    »Okay.«
    Sie führten fast jeden Tag ein Gespräch dieser Art. Mit ihrer Mutter führte Ruth ähnliche Gespräche, nur kürzer. Einmal, als Ruth ihrem Vater erklärte, sie werde immer ganz traurig, wenn sie an Thomas und Timothy denke, gab er zu, daß er auch traurig sei.
    Daraufhin hatte Ruth gesagt: »Aber Mummy ist noch viel trauriger.«
    »Na ja … schon«, hatte Ted eingeräumt.
    Und so lag Ruth wach in dem Haus, in dem irgend etwas in den Wänden krabbelte, etwas, das größer war als eine Maus, und sie lauschte dem einzigen Geräusch, das sie je würde trösten können und das sie zugleich wehmütig stimmte. Damals freilich wußte sie nicht einmal, was »wehmütig« bedeutet. Es war das Geräusch einer Schreibmaschine, das Geräusch des Geschichtenerzählens. Später als Romanautorin ließ Ruth sich nie dazu bekehren, einen Computer zu verwenden; sie schrieb entweder mit der Hand oder auf einer Schreibmaschine, die sie deshalb ausgesucht hatte, weil sie das altmodischste Geräusch machte, das man sich denken konnte.
    Damals (in jener Nacht im Sommer 1958) wußte sie nicht, daß ihr Vater mit der Geschichte begann, die ihre Lieblingsgeschichte werden sollte. Er arbeitete den ganzen Sommer daran, und wie sich herausstellte, war sie das einzige, was er zu Papier brachte, bei dem sein demnächst eintreffender Assistent Eddie O’Hare tatsächlich Gelegenheit haben sollte zu »assistieren«. Und auch wenn kein anderes Kinderbuch Ted Cole jemals soviel wirtschaftlichen Erfolg oder internationalen Ruhm bescherte wie Die Maus, die in der Wand krabbelt, mochte Ruth das Buch, das ihr Vater in jener Nacht angefangen hatte, am liebsten. Selbstverständlich hieß es Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen , und für Ruth blieb es immer etwas Besonderes, weil sie den Anstoß dazu gegeben hatte.
    Unglückliche Mütter

    Ted Coles Kinderbücher ließen sich nicht recht einordnen, was das Alter seiner Leserschaft betraf. Die Maus, die in der Wand krabbelt kam als Vorlesebuch für Kinder zwischen vier und sechs auf den Markt; in dieser Altersgruppe kam es gut an, ebenso wie Teds spätere Bücher. Aber Zwölfjährige beispielsweise stellten nicht selten fest, daß sie einer Geschichte von Ted Cole ein zweites Mal etwas abgewinnen konnten. Diese etwas anspruchsvolleren Leser schrieben ihm häufig Briefe, in denen sie dem Autor mitteilten, früher – das heißt, ehe sie in die tieferen Bedeutungsschichten seiner Bücher vorgedrungen seien – hätten sie geglaubt, er schreibe für kleine Kinder. Diese Briefe, die in stilistischer und orthographischer Hinsicht ein recht unterschiedliches Maß an Kompetenz offenbarten, bildeten in Teds Werkstatt eine Art Tapete.
    Der Ausdruck »Werkstatt« stammte von ihm selbst; später fragte sich Ruth, ob dieser Begriff die Meinung, die ihr Vater von sich selbst hatte, nicht viel treffender kennzeichnete, als ihr als Kind bewußt gewesen war. Die Bezeichnung »Atelier« stand nie zur Debatte, weil Ted es längst aufgegeben hatte, seine Bücher als Kunstwerke zu betrachten; und »Werkstatt« hörte sich immerhin ambitionierter an als »Arbeitszimmer« – so wurde dieser Raum auch nie genannt, weil ihr Vater anscheinend doch recht stolz auf seine Kreativität war. Er reagierte empfindlich auf die weitverbreitete Annahme, er betrachte das Bücherschreiben lediglich als Geschäft. Erst viel später kam Ruth dahinter, daß ihr Vater sein Zeichentalent höher einschätzte als sein literarisches
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