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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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Geschichte.«
    Als sich ihr Vater vom Badewannenrand erhob, hörte Ruth seine Knie knacken. Er klemmte den Zettel wieder zwischen die Zähne und schaltete das Licht im Gästebad aus, in dem Eddie O’Hare bald unsinnig viel Zeit verbringen würde – endlos lang duschte, bis das heiße Wasser ausging, oder was Teenager sonst so tun.
    Ruths Vater machte alle Lichter in dem langen Flur aus, in dem die Fotos von Thomas und Timothy perfekt in Reih und Glied hingen. Ruth hatte, vor allem in diesem Sommer, in dem sie vier war, den Eindruck, als gäbe es von ihren beiden Brüdern Unmengen von Aufnahmen, auf denen sie etwa vier Jahre alt waren. Später vermutete sie, daß ihre Mutter Vierjährige vielleicht lieber mochte als Kinder in einem anderen Alter; und sie fragte sich, ob das der Grund war, weshalb sie sie am Ende jenes Sommers, in dem sie vier war, verlassen hatte.
    Nachdem ihr Vater sie wieder ins Bett gebracht und gut zugedeckt hatte, fragte Ruth: »Gibt es in unserem Haus Mäuse?«
    »Nein, Ruthie«, antwortete er. »In unseren Wänden krabbelt nichts.« Trotzdem lag sie wach, nachdem er ihr einen Gutenachtkuß gegeben hatte, und auch wenn das Geräusch, das aus ihrem Traum nachgeklungen hatte, nicht zurückkehrte – wenigstens nicht in jener Nacht –, wußte Ruth schon damals, daß doch etwas in den Wänden dieses Hauses herumkrabbelte. Die Anwesenheit ihrer toten Brüder beschränkte sich nicht auf die Fotografien. Sie wanderten umher, und ihre Gegenwart ließ sich auf vielfältige, freilich nicht sichtbare Weise feststellen.
    Noch bevor Ruth in dieser Nacht die Schreibmaschine hörte, wußte sie, daß ihr Vater wach war und auch nicht mehr ins Bett gehen würde. Zuerst horchte sie, wie er sich die Zähne putzte, dann hörte sie, wie er sich anzog – das Ratschen des Reißverschlusses, das Klappern seiner Schuhe.
    »Daddy?« rief sie hinüber.
    »Ja, Ruthie.«
    »Ich möchte einen Schluck Wasser.«
    Eigentlich wollte sie gar kein Wasser, aber sie fand es immer wieder spannend, daß ihr Vater das Wasser laufen ließ, bis es kalt war. Ihre Mutter nahm das Wasser, das unmittelbar aus dem Hahn lief; es war lauwarm und schmeckte nach Wasserleitung.
    »Trink nicht so viel, sonst mußt du pinkeln«, sagte ihr Vater dann jedesmal, während ihre Mutter sie so viel trinken ließ, wie sie wollte – manchmal ohne überhaupt hinzusehen.
    Als Ruth ihrem Vater den Becher zurückgab, sagte sie: »Erzähl mir von Thomas und Timothy.« Ihr Vater seufzte. Seit einem halben Jahr bekundete Ruth ein unstillbares Interesse am Thema Tod – eigentlich kein Wunder. Seit sie drei war, hatte sie Thomas und Timothy auf den Fotos unterscheiden können; nur auf den Säuglingsfotos verwechselte sie sie hin und wieder. Beide Eltern hatten ihr die Umstände, unter denen jedes einzelne Foto entstanden war, genau geschildert – ob Mummy oder Daddy es aufgenommen und ob Thomas oder Timothy geweint hatte. Doch erst seit kurzem versuchte Ruth zu begreifen, was es eigentlich bedeutete, daß ihre Brüder tot waren.
    »Sag«, fragte sie ihren Vater oft, »sind sie richtig tot?«
    »Ja, Ruthie.«
    »Und tot bedeutet, daß sie kaputt sind?«
    »Na ja … ihre Körper sind kaputt, ja.«
    »Und sie sind unter der Erde?«
    »Ihre Körper schon, ja.«
    »Aber ganz fort sind sie nicht?«
    »Hm … nicht, solange wir uns an sie erinnern. Aus unseren Herzen und unseren Gedanken sind sie nicht fort.«
    »Dann sind sie irgendwie in uns drin?«
    »Na ja …« Ihr Vater ließ es dabei bewenden, aber seine Antwort war immerhin ausführlicher als die, die Ruth von ihrer Mutter bekam; ihre Mutter hätte das Wort »Tod« nie über die Lippen gebracht. Weder Ted noch Marion waren religiös. Es kam für beide nicht in Frage, Ruth eine anschauliche Vorstellung vom Himmel zu vermitteln, auch wenn sie bei anderen Gesprächen mit Ruth über dieses Thema rätselhafte Anspielungen auf den Himmel und die Sterne machten; sie deuteten an, daß irgendein Teil von den Jungen anderswo lebte als bei ihren kaputten Körpern unter der Erde.
    »Ich möchte wissen …«, sagte Ruth, »was ›tot‹ bedeutet.«
    »Also hör zu, Ruthie …«
    »Okay«, sagte Ruth.
    »Wenn du dir Thomas und Timothy auf den Fotos ansiehst, erinnerst du dich dann, was wir dir dazu erzählt haben? Was sie damals gerade gemacht haben?« fragte ihr Vater. »Auf den Fotos, meine ich?«
    »Ja«, antwortete Ruth, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das noch bei jedem Bild genau wußte.
    »Na also … Und das
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